Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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geschichtlicher Rückschau über einzelne und alle. 
Das Gleichartige und Beharrende in den Bedürf- 
nissen der Völker erzeugt eine gewisse Verwandt- 
schaft ihrer staatlichen Einrichtungen. Es lassen 
sich Formen von typischer Bedeutung erkennen 
und in den Veränderungen dieser Formen typische 
Regelmäßigkeiten, so daß man allerdings unter 
Anwendung einer gewissen Vorsicht zugeben kann, 
daß das staatliche und gesellschaftliche Leben selbst 
wieder einer gesetzmäßig verlaufenden „Entwick- 
lung“ unterliege. Dieser Begriff ist genommen 
von Erscheinungen im Leben von Organismen 
und läßt sich auf die Gesellschaft nur da anwenden, 
wo sich etwas ihnen Gleichartiges erkennen läßt. 
Die Gesellschaft, ganz besonders die als geordnet 
betrachtete, stellt sich als eine Lebenseinheit dar; 
es besteht Wechselwirkung zwischen einzelnen und 
Gesamtheit; Verrichtungen sind in bestimmter 
Ordnung an dienende Organe verteilt. Es exi- 
stiert ein beständiger Erneuerungsprozeß der Teile 
bei gleichbleibender Form des Ganzen und dann 
wieder ein Wachstum des Ganzen ohne Ver- 
änderungen der Elemente, ferner die Fähigkeit, 
Störungen von innen heraus auszugleichen. Wie 
beim einzelnen, zeigen sich bei der Gesamtheit 
geistige Kräfte, bei letzterer allerdings durch ganze 
Gruppen und kleine Gesamtheiten dargestellt. Die 
Vergleichung von Gesellschaft und Organismus 
kann aber leicht zu weit gehen, und dies würde 
geschehen, wenn die menschliche Persönlichkeit in 
ihrer Eigenschaft, abhängiges Glied im Organis- 
mus zu sein, aufgehen würde und man so zu dem 
Satze gelangte, daß, wie der einzelne moralischen, 
so die Gesellschaft Naturgesetzen unterliege. 
Insbesondere nannte man Entwicklungs- 
gesetze jene Gesetze, welche die Geschicke der Ge- 
sellschaft im weitesten Sinne, also der Menschheit, 
ersichtlich machen sollten. Die Wissenschaft von 
ihnen und von den Grundideen, von welchen be- 
deutende Individuen und ganze Perioden und 
Völker geleitet worden sind, gilt bald als Aufgabe 
der Geschichtsphilosophie bald als Kulturgeschichte 
bald als Soziologie. Unter dem Einfluß natur- 
wissenschaftlichen Ubereifers, vielleicht auch nicht 
genügend vorsichtiger Rechtsvergleichung, behan- 
delte man liebevoll die Hypothese, der Mensch 
habe sich aus tierischer Roheit erhoben. Eine 
Reihe von Gelehrten (Bachofen, Morgan, Post, 
Lippert) verwarf die Annahme, die patriarchalische 
Familie sei der Ausgangspunkt gewesen, und be- 
hauptete die ursprüngliche Abwesenheit der Ehe, 
die Bestimmung der Verwandtschaft durch die 
Mutter (uterine Gentilverfassung, Mutterrecht), 
das ursprüngliche Recht des Kindermordes, der 
Preisgebung der Kranken und Alten. Die christ- 
liche Anschauung, durch welche solche Verirrungen 
der „Naturvölker“ als nachträglich eingetretener 
Verfall erklärt wurden, fand ihre Bestätigung 
durch die exakte Forschung, welche nachwies, daß 
jene angeblichen Urzustände keineswegs allgemein 
nachweisbar sind. 
Gesellschaft usw. 
  
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Wie für die Urzeit, fehlt es auch für die histo- 
rische Zeit nicht an Vorschlägen von Entwicklungs- 
gesetzen, an geschichtsphilosophischen Bauten, 
an Verallgemeinerungen des einen oder andern 
meistens immerhin eine gewisse Wahrheit ent- 
haltenden Grundgedankens. Mit dem von den 
alten Chronisten als Faden der geschichtlichen 
Betrachtung benutzten Danielschen Bilde von den 
vier Weltmonarchien brach die humanistische Hi- 
storiographie. Machiavelli (s. d. Art.), Bodin 
(s. d. Art.) u. a. suchten die Geschichte nur aus 
sich zu erklären, ersterer mit seinem Kreislauf der 
Staatsformen, letzterer von ursprünglicher Roheit 
ausgehend. Von da ab mehrten sich die Dar- 
stellungen der Entwicklung der menschlichen Ge- 
sellschaft wie der einzelnen Völker, nicht ohne mit- 
unter der Gefahr pantheistischer Anschauungen zu 
unterliegen. Im 19. Jahrh. schrieb Hegel in Ver- 
tretung des antiken Staatsgedankens seine Ge- 
schichtsphilosophie, indes Krause die Gesellschaft 
mehr berücksichtigte. Ganz besonderes Augenmerk 
auf diese richtete L. v. Stein. Er teilte ab: Ge- 
schlechterordnung, ständische oder Berufsordnung, 
staatsbürgerliche Ordnung, deren wirkende Kraft 
die kapitalbildende Persönlichkeit sei. In Roschers 
lange Zeit maßgebender Volkswirtschaftslehre hie- 
ßen die Typen: mittelalterliches, blühendes, sinken- 
des Volk (s. darüber Bruder in der Monatsschrift 
für christl. Sozialreform 111879.). Nach Roscher 
war für das jugendliche Deutschland die kanoni- 
stische Wirtschaftsverfassung ebenso berechtigt wie 
für die Blütezeit die volle wirtschaftliche Freiheit. 
Es war dies immerhin noch ein Fortschritt gegen- 
überdem dievorsmithschen Wirtschaftsanschauungen 
überhaupt bemitleidenden Manchestertum. 
Nach christlicher Anschauung ist das Gesetz des 
Fortschrittes ein durchaus freies, frei seitens der 
einzelnen, frei seitens der Gesellschaft; sie bemißt 
den Fortschritt nach der Verwirklichung der christ- 
lichen Grundsätze. Nur durch diese hält sie das 
Ziel, die steigende Wertschätzung der menschlichen 
Persönlichkeit, auf die Dauer für erreichbar. Auf 
die Verwirklichung der Sittlichkeit als Maß der 
Kultur wird nicht etwa bloß von katholischer Seite 
der Nachdruck gelegt. Nach Rümelin (Reden 
[18811 142) besteht das Gesetz des Fortschrittes 
darin, daß das Gute aus dem flüssigen und un- 
sichern Element freier Sittlichkeit von einzelnen 
sich zu den festeren Formen rechtlicher Ordnung 
und herrschender Sitte verdichte. Der von den 
Materialisten angewendete Maßstab steigender 
Beherrschung der Natur ist für die edle geistige 
Beschaffenheit des Menschen ein zu roher und 
äußerlicher. Ob die Einführung oder Wieder- 
herstellung einer den christlichen Grundsätzen völlig 
entsprechenden Gesellschaftsordnung irgendwo in 
der Welt in absehbarer Zeit zu erwarten steht, ist 
an dieser Stelle nicht zu erwägen. Unverrückt und 
unverdunkelt aber muß zu allen Zeiten ein solches 
Ideal der praktischen sozialen Arbeit aller christ- 
lichen Gesellschaftsglieder vorschweben; denn aus
	        
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