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auf Grund des Verschuldens eines andern zuerkennt,
einen Anspruch nur gegen den Schuldigen gibt und
für die Höhe des Schadens einen strengen Beweis
fordert, kam man nicht mehr aus. Bei den meisten
industriellen Unfällen kann man keinen bestimmten
Einzelnen als Schuldigen bezeichnen. Ihre Ursache
liegt in der gesamten Organisation unserer Indu-
strie mit ihren Maschinen und mechanischen Trieb-
kräften. Diese bringt eine natürliche Gefährlichkeit
der Arbeit mit sich, die durch Vorsicht der Arbeiter,
Schutzvorrichtungen und Verbesserung des Be-
triebes vermindert, aber nie ganz beseitigt werden
kann. Die gewerblichen Unfälle haben den Charak-
ter als schuldhafte Ausnahmen fast ganz verloren,
vielmehr in ihrer Gesamtheit den einer unvermeid-
lichen Regelmäßigkeit angenommen, welche ein
Ausfluß der allgemeinen, der neueren Industrie
ihrer Natur nach innewohnenden Gefährlichkeit
ist. Die neue Zeit hat hier neue Verhälktnisse ge-
schaffen, welche eine gesetzliche Reglung nach eben-
falls neuen Gesichtspunkten erheischen. Man mußte
bei der Entschädigung dieser Unfälle den alten
Gesichtspunkt der Verschuldung aufgeben und den
Gesichtspunkt des ursächlichen Zusammen-
hanges als den maßgebenden hinstellen. Die
Ursache der gewerblichen Unfälle ist die Industrie
in ihrer Eigenart und Gesamtheit; die gesamte
Industrie ist daher auch solidarisch verpflichtet
zu der vollen Entschädigung derselben. Sie muß
dieselbe als allgemeine Geschäftsunkosten, als
einen Teil der notwendigen Produktionskosten
übernehmen und als solche in der Bestimmung
des Preises ihrer Waren verrechnen. Der Unter-
nehmer, der in seinem aktiven Intertsse den
Betrieb mit seiner natürlichen Gefährlichkeit ein-
gerichtet hat, muß auch für die Folgen dieser
Gefährlichkeit aufkommen. Weiter führt dieser
Gedankengang dazu, daß nicht der einzelne
Unternehmer für die Entfesselung der Gefährlich-
keit der industriellen Betriebe verantwortlich zu
machen ist, sondern die Gesamtheit des Unter-
nehmertums.
Immer mehr brach sich darum unter dem Ein-
fluß der namentlich auch von katholischer Seite
beförderten neuen sozialpolitischen Anschauungen
die Ansicht Bahn, daß der Staat der Industrie
die Entschädigung der gewerblichen Unfälle all-
gemein zur gesetzlichen Pflicht machen muß. Da
die Anweisung des Arbeiters behufs Entschädigung
auf den einzelnen Betriebsherrn in vielen Fällen,
insbesondere bei Massenunglücken, versagt, sobald
dieser selbst zahlungsunfähig wird, so kann die
Anweisung auf die Gesamtheit der Industrie nicht
abgewiesen werden. Sie entspricht auch allein der
sozialen Gerechtigkeit. Denn nicht der einzelne
Betriebsunternehmer ist schuld an der Gefährlich-
keit seines Betriebes, sondern die Industrie im
ganzen. Innerhalb der allgemeinen Gefährlichkeit
derselben ist es vielfach eine Sache des Zufalls,
ob hier oder dort mehr oder weniger Unfälle
sich ereignen; jedenfalls wird man nur selten
Haftpflicht.
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sagen können, daß der Unternehmer selbst bei
einem bestimmten Unfall eine eigene Verschuldung
trage.
3. Der Haftpflichtbegriff im engeren
Sinne. ÜUber die Form, in welcher die Ver-
pflichtung zur Unfallentschädigung von der In-
dustrie zu erfüllen ist, bestanden verschiedene Mei-
nungen. Die eine wollte in allen Industriezweigen
den einzelnen Unternehmer und nur diesen für die
Entschädigung der in seinem Betriebe stattfinden-
den Unfälle haftbar machen. Man versteht diese
Auffassung unter dem Begriffe der Haftpflicht im
engeren Sinne. Nach derselben soll der Unter-
nehmer nicht verantwortlich sein für diejenigen Un-
fälle, welche durch eigene Schuld des Verletzten oder
durch höhere Gewalt herbeigeführt sind, sondern
nur für solche, bei denen ihn selbst eine Schuld
trifft. Für diejenigen Unfälle, welche der allge-
meinen Gefährlichkeit des Betriebes zuzuschreiben
sind, würde er nur dann zu haften haben, wenn
ihm im einzelnen Falle eine Schuld nachgewiesen
werden könnte. Zur Sicherstellung der Arbeiter
bei allenfallsiger Zahlungsunfähigkeit der ein-
zelnen Unternehmer sollten diese dabei gezwungen
werden, ihre sämtlichen Arbeiter bei Unfallver-
sicherungsgesellschaften gegen alle haftpflichtigen
Unfälle zu versichern. Eine andere Meinung ver-
langte korporative Organisation der Industrie im
ganzen oder in ihren einzelnen Industriezweigen
zum Zwecke der gemeinschaftlichen Ubernahme der
Entschädigungspflicht oder zur gegenseitigen Ver-
sicherung aller Arbeiter gegen Unfälle. Es hätte
dann direkt die Genossenschaft der Betriebsherren
die Entschädigung der Unfälle zu tragen und diese
in Form von Beiträgen auf ihre einzelnen Mit-
glieder umzulegen, oder sie hätte Versicherungs-
beiträge zu erheben und die Entschädigung nach
dem Grundsatze der Gegenseitigkeitsversicherung
auszuzahlen. Eine dritte Meinung endlich wünschte
eine allgemeine staatliche Anstalt zur Ubernahme
der Enschädigung für alle gewerblichen Unfälle,
welche die Kosten von den einzelnen Betriebsin-
habern zu erheben hätte.
Die Wahl zwischen diesen Wegen und die Reg-
lung im einzelnen kann nicht wohl allgemein ge-
chehen. Alle haben ihre Vorteile und ihre Nach-
teile. Die Entscheidung muß getroffen werden auf
Grund der tatsächlichen Verhältnisse, mit denen in
den einzelnen Ländern zu rechnen ist. Im ersten
Falle hängt sie wesentlich ab von der Ausgestal-
tung der Haftung des Unternehmers im einzelnen
und von der Natur und praktischen Bewährung
der bestehenden Unfallversicherungsgesellschaften,
die als Erwerbsgesellschaften oder als Gegenseitig-
keitsgesellschaften denkbar sind. Im zweiten Falle
kann die Organisation der Industrie in der ver-
schiedensten Weise geschehen, namentlich mehr oder
weniger zentralisiert und bureaukratisch; am schwie-
rigsten ist die Frage, wie weit ein Einfluß des
Staates dabei nötig und wie weit er zulässig ist.
Der dritte Weg kann da notwendig werden, wo
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