Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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auf Grund des Verschuldens eines andern zuerkennt, 
einen Anspruch nur gegen den Schuldigen gibt und 
für die Höhe des Schadens einen strengen Beweis 
fordert, kam man nicht mehr aus. Bei den meisten 
industriellen Unfällen kann man keinen bestimmten 
Einzelnen als Schuldigen bezeichnen. Ihre Ursache 
liegt in der gesamten Organisation unserer Indu- 
strie mit ihren Maschinen und mechanischen Trieb- 
kräften. Diese bringt eine natürliche Gefährlichkeit 
der Arbeit mit sich, die durch Vorsicht der Arbeiter, 
Schutzvorrichtungen und Verbesserung des Be- 
triebes vermindert, aber nie ganz beseitigt werden 
kann. Die gewerblichen Unfälle haben den Charak- 
ter als schuldhafte Ausnahmen fast ganz verloren, 
vielmehr in ihrer Gesamtheit den einer unvermeid- 
lichen Regelmäßigkeit angenommen, welche ein 
Ausfluß der allgemeinen, der neueren Industrie 
ihrer Natur nach innewohnenden Gefährlichkeit 
ist. Die neue Zeit hat hier neue Verhälktnisse ge- 
schaffen, welche eine gesetzliche Reglung nach eben- 
falls neuen Gesichtspunkten erheischen. Man mußte 
bei der Entschädigung dieser Unfälle den alten 
Gesichtspunkt der Verschuldung aufgeben und den 
Gesichtspunkt des ursächlichen Zusammen- 
hanges als den maßgebenden hinstellen. Die 
Ursache der gewerblichen Unfälle ist die Industrie 
in ihrer Eigenart und Gesamtheit; die gesamte 
Industrie ist daher auch solidarisch verpflichtet 
zu der vollen Entschädigung derselben. Sie muß 
dieselbe als allgemeine Geschäftsunkosten, als 
einen Teil der notwendigen Produktionskosten 
übernehmen und als solche in der Bestimmung 
des Preises ihrer Waren verrechnen. Der Unter- 
nehmer, der in seinem aktiven Intertsse den 
Betrieb mit seiner natürlichen Gefährlichkeit ein- 
gerichtet hat, muß auch für die Folgen dieser 
Gefährlichkeit aufkommen. Weiter führt dieser 
Gedankengang dazu, daß nicht der einzelne 
Unternehmer für die Entfesselung der Gefährlich- 
keit der industriellen Betriebe verantwortlich zu 
machen ist, sondern die Gesamtheit des Unter- 
nehmertums. 
Immer mehr brach sich darum unter dem Ein- 
fluß der namentlich auch von katholischer Seite 
beförderten neuen sozialpolitischen Anschauungen 
die Ansicht Bahn, daß der Staat der Industrie 
die Entschädigung der gewerblichen Unfälle all- 
gemein zur gesetzlichen Pflicht machen muß. Da 
die Anweisung des Arbeiters behufs Entschädigung 
auf den einzelnen Betriebsherrn in vielen Fällen, 
insbesondere bei Massenunglücken, versagt, sobald 
dieser selbst zahlungsunfähig wird, so kann die 
Anweisung auf die Gesamtheit der Industrie nicht 
abgewiesen werden. Sie entspricht auch allein der 
sozialen Gerechtigkeit. Denn nicht der einzelne 
Betriebsunternehmer ist schuld an der Gefährlich- 
keit seines Betriebes, sondern die Industrie im 
ganzen. Innerhalb der allgemeinen Gefährlichkeit 
derselben ist es vielfach eine Sache des Zufalls, 
ob hier oder dort mehr oder weniger Unfälle 
sich ereignen; jedenfalls wird man nur selten 
Haftpflicht. 
  
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sagen können, daß der Unternehmer selbst bei 
einem bestimmten Unfall eine eigene Verschuldung 
trage. 
3. Der Haftpflichtbegriff im engeren 
Sinne. ÜUber die Form, in welcher die Ver- 
pflichtung zur Unfallentschädigung von der In- 
dustrie zu erfüllen ist, bestanden verschiedene Mei- 
nungen. Die eine wollte in allen Industriezweigen 
den einzelnen Unternehmer und nur diesen für die 
Entschädigung der in seinem Betriebe stattfinden- 
den Unfälle haftbar machen. Man versteht diese 
Auffassung unter dem Begriffe der Haftpflicht im 
engeren Sinne. Nach derselben soll der Unter- 
nehmer nicht verantwortlich sein für diejenigen Un- 
fälle, welche durch eigene Schuld des Verletzten oder 
durch höhere Gewalt herbeigeführt sind, sondern 
nur für solche, bei denen ihn selbst eine Schuld 
trifft. Für diejenigen Unfälle, welche der allge- 
meinen Gefährlichkeit des Betriebes zuzuschreiben 
sind, würde er nur dann zu haften haben, wenn 
ihm im einzelnen Falle eine Schuld nachgewiesen 
werden könnte. Zur Sicherstellung der Arbeiter 
bei allenfallsiger Zahlungsunfähigkeit der ein- 
zelnen Unternehmer sollten diese dabei gezwungen 
werden, ihre sämtlichen Arbeiter bei Unfallver- 
sicherungsgesellschaften gegen alle haftpflichtigen 
Unfälle zu versichern. Eine andere Meinung ver- 
langte korporative Organisation der Industrie im 
ganzen oder in ihren einzelnen Industriezweigen 
zum Zwecke der gemeinschaftlichen Ubernahme der 
Entschädigungspflicht oder zur gegenseitigen Ver- 
sicherung aller Arbeiter gegen Unfälle. Es hätte 
dann direkt die Genossenschaft der Betriebsherren 
die Entschädigung der Unfälle zu tragen und diese 
in Form von Beiträgen auf ihre einzelnen Mit- 
glieder umzulegen, oder sie hätte Versicherungs- 
beiträge zu erheben und die Entschädigung nach 
dem Grundsatze der Gegenseitigkeitsversicherung 
auszuzahlen. Eine dritte Meinung endlich wünschte 
eine allgemeine staatliche Anstalt zur Ubernahme 
der Enschädigung für alle gewerblichen Unfälle, 
welche die Kosten von den einzelnen Betriebsin- 
habern zu erheben hätte. 
Die Wahl zwischen diesen Wegen und die Reg- 
lung im einzelnen kann nicht wohl allgemein ge- 
chehen. Alle haben ihre Vorteile und ihre Nach- 
teile. Die Entscheidung muß getroffen werden auf 
Grund der tatsächlichen Verhältnisse, mit denen in 
den einzelnen Ländern zu rechnen ist. Im ersten 
Falle hängt sie wesentlich ab von der Ausgestal- 
tung der Haftung des Unternehmers im einzelnen 
und von der Natur und praktischen Bewährung 
der bestehenden Unfallversicherungsgesellschaften, 
die als Erwerbsgesellschaften oder als Gegenseitig- 
keitsgesellschaften denkbar sind. Im zweiten Falle 
kann die Organisation der Industrie in der ver- 
schiedensten Weise geschehen, namentlich mehr oder 
weniger zentralisiert und bureaukratisch; am schwie- 
rigsten ist die Frage, wie weit ein Einfluß des 
Staates dabei nötig und wie weit er zulässig ist. 
Der dritte Weg kann da notwendig werden, wo 
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