Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Eine Wesens unschreibung ist es, wenn wir 
sagen: Die Familie ist eine von der menschlichen 
Natur geforderte gesellschaftliche Grundform zur 
Fortpflanzung des Menschengeschlechts und zur 
Entwicklung des einzelnen Menschen. Die Familie 
ist jene Gesellschaftsform, die sich gründet auf die 
Geschlechtsverschiedenheit und die Fortpflanzungs- 
fähigkeit. Ihr Entstehen verdankt die Familie dem 
Ehevertrag, der die Gemeinschaft des Blutes zwi- 
schen den beiden vertragschließenden Teilen bewirkt 
durch das gegenseitige Recht auf die Leiber. 
Der Gebrauch des Vertragsrechtes der Bluts- 
gemeinschaft zwischen den beiden Eheleuten dient 
der Fortpflanzungsfähigkeit, die dadurch in Tätig- 
keit tritt und in der Blutsgemeinschaft neue 
Menschenwesen schafft. Diese gehören derselben 
Blutsgemeinschaft an, da ihnen dasselbe Blut 
eigen ist. Das gilt in gleicher Weise von allen, 
die aus einer Blutsgemeinschaft hervorgehen, so 
daß sie dadurch unter sich im gleichen Verhältnis 
stehen. Diese Art von Blutsgemeinschaft zwischen 
Eltern und Kindern und der Kinder untereinander 
heißt gewöhnlich Blutsverwandtschaft. Sie ist 
durch die Fortpflanzung bzw. Abstammung be- 
gründet im Unterschied von der durch Ehevertrag 
begründeten. Es sind so zwei Arten der Bluts- 
gemeinschaft, die sich zueinander wie Wirkung und 
Ursache verhalten. Die Natur nun dringt auf Er- 
weiterung der Blutsgemeinschaft in der Art, daß 
sie auf die Dauer einer Blutsgemeinschaft wider- 
strebt, die sowohl durch Fortpflanzung bzw. Ab- 
stammung wie auch durch Ehevertrag begründet 
wäre. Das Widerstreben der Natur gegen diese 
sog. Inzucht äußert sich in der Entartung und im 
Aufhören der Fortpflanzungsmöglichkeit bei den 
betreffenden Individuen. 
Die von der Natur gewollte Erweiterung der 
Blutsgemeinschaft ist die, daß Mann und Weib, 
die nicht derselben Blutsverwandtschaft angehören, 
sich zur ehelichen Blutsgemeinschaft zusammen- 
finden. Dadurch werden dann allerdings auch die 
beiderseitigen Blutsverwandten miteinander in 
engere Beziehungen gesetzt, aber nicht so eng wie 
die zwei Eheleute durch den Ehevertrag, noch auch 
in der Art der durch Fortpflanzung hergestellten 
Blutsgemeinschaft. Diese neue Art von Gemein- 
schaft wird Schwägerschaft genannt. Durch 
diese Gemeinschaftsbildung wirkt die Familie 
grundlegend und aufbauend für die Organisation 
des Gesellschaftslebens überhaupt. 
Durch Abstammung, Verwandtschaft und 
Schwägerschaft werden größere gesellschaftliche 
Gruppen gebildet, die sich über der Familie auf- 
bauen. Die wichtigste davon ist die „Sippe“, 
d. h. eine Gruppe von Personen, die sich durch 
gemeinsame Abstammung sowohl in der geraden 
Linie wie in den seitlichen Linien und ihren Ver- 
zweigungen verbunden fühlen (Fuchs). Über der 
Sippeerhebt sich der Stamm und darüber das Volk. 
Der natürliche Zuwachs der Familie kann auch 
ersetzt werden durch die Rechtsform der Adop- 
Familie. 
  
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tion, die Aufnahme fremder Kinder in den 
Familienverband mit den Rechten der natürlichen 
Kinder (s. d. Art. Eltern). Eine Erweiterung des 
Familienkreises ist auch das Dienstbotenver- 
hältnis (s. d. Art. Gesinde). 
3. Sittliche Ordnung. Die Familie ist 
der Kern der gesellschaftlichen Organisation, die 
sich aus ihr fortwährend entwickelt und erneut. 
Damit ist schon ausgedrückt, daß die Familie kein 
unabhängiges Nebeneinander von mehreren Men- 
schen ist, sondern ein geordnetes Gebilde. Die 
Ordnung, die darin herrschen soll, gehört dem sitt- 
lichen Gebiet an, weil die Mitglieder der Familie 
sittliche Wesen sind. Und da die sittliche Ordnung 
der Familie in innigster Beziehung zu Gottes 
Wille und Wirken steht, da zudem das Christen- 
tum die Familie im Sakrament der Ehe über- 
natürlich heiligt und kräftigt, wird sie zugleich eine 
religiöse christliche Einrichtung. Der Einheits- 
punkt, um den sich die Menschen in der Familie 
zu ordnen haben, ist die Autorität des Gatten und 
Vaters. Die Pflichtenkreise gliedern sich in die 
Gattenpflichten, Eltern= und Kindespflichten, und 
diesen analog in die Pflichten von Herrschaften 
und Dienstboten. Natürlich wurden im Lauf 
der Zeit je nach der ethisch-religiösen Auffassung 
diese Pflichten verschieden aufgefaßt oder auch 
vernachlässigt. Das Christentum hat gerade in 
der Familie mit seiner welterneuernden Macht 
eingesetzt, indem der Sohn Gottes durch seine 
Menschwerdung in den Schoß einer Menschen- 
familie herabstieg. Das organisierte Christentum, 
die Kirche, hat dann im Lauf der Zeit auf die 
Umgestaltung und Höherbildung der Familie den 
nachhaltigsten und tiefstgehenden Einfluß ausgeübt 
durch seine Pflichtenlehre und Gnadenvermittlung. 
II. Zur Geschichte. Die Familie, das Wort 
im engsten Sinn genommen, ist gegeben mit der 
Natur des Menschen, christlich gesprochen, durch 
seine Erschaffung als Mann und Weib mit dem 
Auftrag, sich fortzupflanzen. Die Geschichte der 
Familie ist nun nichts anderes als das Schicksal 
dieser ursprünglich in die Natur des Menschen 
hineingeschaffenen Organisation in den verschieden- 
sten Zeiten und Ländern und Völkern. 
An die ursprüngliche Gestalt der Familie knüpfte 
das Christentum an, mit dem Bestreben, sie wieder- 
herzustellen und in eine höhere Ordnung zu er- 
heben. Dadurch wurde das Christentum zum ge- 
waltigsten Ereignis in der Geschichte der Familie 
und ist es bis in die Gegenwart geblieben. Indem 
die Kirche die ethisch-religiöse Ordnung der Ehe 
und Familie betonte, machte sie dieselbe frei vom 
Joch des Staates und der andern weltlich-irdischen 
Gewalten. Durch die grundsätzliche Freiheit des 
Ehevertrages für Mann und Weib wurde die 
starre Härte der römisch-rechtlichen patria pote- 
stas und der deutsch-rechtlichen väterlichen Munt 
gebrochen, der hauptsächlich die Tochter fast recht- 
los preisgegeben war. Auch die Form des Braut- 
kaufs war damit des Inhalts entleert. Durch das
	        
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