Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Gotteslehre von Imman. Herm. v. Fichte 11902) 
196 ff). Während so dem Staat nichts anderes 
übrig bleibt, als im Vertrauen auf die Natur- 
wüchsigkeit und sieghafte Kraft des Gottesbegriffs 
die Atheisten in seinem Schoß solange zu er- 
tragen, als bis sie durch ungesetzliche Handlungen 
gegen die Staatssicherheit das Strafgesetz heraus- 
sordern, wird er hingegen für die Förderung des 
Gottesglaubens und der christlichen Gesinnung 
in den breiten Massen durch Errichtung guter 
Volksschulen, durch Heranbildung einer gläubigen 
Lehrer= und Beamtenschaft in Seminarien und 
Hochschulen, durch Freigabe des ungehemmten 
Einflusses der Kirche usw. nur um so kräftiger 
Sorge tragen müssen. 
b) Als zweite Schranke gegen eine übertriebene 
Toleranz stellt das Naturrecht die Forderung auf, 
daß der Staat aus Furcht vor religiöser Unduld- 
samkeit nicht die schrankenlose Glaubens- und 
Kultusfreiheit auf seine Fahne schreibe. Denn die 
staatliche Duldung aller Religionsformen ohne 
Unterschied wäre tatsächlich nur auf der Basis 
des staatsfeindlichen Atheismus oder des religiös 
indifferenten Deismus denkbar, welch letzterer vom 
Staat völlige Gleichgültigkeit gegen alle Re- 
ligionen fordert. Allein soll der Staat als solcher 
auch selber Religion haben, so muß er der Re- 
ligionsfreiheit mindestens dort Schranken setzen, 
wo die uneingeschränkte Ausübung dieser Freiheit 
zur Untergrabung der Staatssicherheit und der 
öffentlichen Sittlichkeit führen würde. Wenn die 
größten Schändlichkeiten am liebsten in den Deck- 
mantel der Religion sich kleiden, so hat der Staat 
die sittliche Pflicht, dies nicht nur nicht zu dulden, 
sondern auch mit starker Hand zu unterdrücken, schon 
aus Gründen der Selbsterhaltung. Denn ließe 
der Staat der Gottlosigkeit unter der Maske der 
Gewissensfreiheit die Zügel schießen und dämmte 
er die Frivolität und Unsittlichkeit nicht in ihr 
Bett zurück, so würde sich die schmutzige Flut zu- 
letzt zur Welle stauen, die ihn selbst verschlänge. 
„Selbst unser Zeitalter“, sagt Dahlmann (a. a. O.), 
„hat Pöschelianer gesehen, die für ihren Glauben 
Mitmenschen töteten, hat Gemeinschaft der Güter 
und Weiber gesehen, die sich Christentum nannte, 
hat Mucker gesehen, die sich allen Ausschweifungen 
hingaben und ihr Beginnen ein christliches Ab- 
töten des Fleisches nannten.“ Selbst das gegen 
das koloniale Heidentum äußerst tolerante Eng- 
land konnte seine Duldsamkeit gegen die Hindu- 
religion nicht so weit treiben, daß es länger dem 
Ritualmord der Kinder und der scheußlichen Un- 
sitte der Witwenverbrennung ruhig zusah, wes- 
wegen gegen jenen 1802, gegen diese 1829 gesetzlich 
vorgegangen wurde (s. W. E. H. Lecky, Demo- 
cracy and Liberty 1 (Lond. 18961] 424 ff. 
Treffend sagt Trendelenburg (a. a. O. 8 172): 
„Es hat die Möglichkeit, verschiedene Religionen 
in sich zu dulden, für jeden Staat seine Grenze, 
wie selbst der auf Dissidententum gegründete nord- 
amerikanische Freistaat die Mormonen als ein 
  
Toleranz. 
  
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unerträgliches Element in sich verspürt. Wo ein 
wirklicher Widerspruch gegen seinen sittlichen Geist 
sich erhebt, kann der Staat die fremde Religion 
solange in sich ertragen, als er sie still zu besiegen 
und faktisch sie mit seinem sittlichen Geist fortzu- 
ziehen hoffen darf.“ Nicht einmal der atheistische 
Revolutionsstaat Frankreichs hat 1791 in seiner 
Déclaration des droits de Phomme et du ci- 
toyen gewagt, die Verkündigung einer schranken- 
losen Gewissens= und Glaubensfreiheit ganz ohne 
Klausel zu lassen (Art. 10): Nul ne doit etre 
inquiété pour ses opinions meme religieuses, 
pourvu qdue leur manifestation ne trouble 
pas Tordre public établi par la loi. Ebenso 
die belgische Verfassung von 1831 in § 14: „Die 
Freiheit jeder Gottesverehrung ist zugesichert mit 
Vorbehalt der Unterdrückung der Vergehungen, 
die bei Ausübung dieser Freiheit begangen werden."“ 
Auch das preußische Landrecht (TI 2, Tit. 11, 
§ 13) fordert als Bedingung für die staatliche An- 
erkennung einer Religionsgesellschaft: „Ehrfurcht 
vor Gott, Treue gegen den Staat und Einflößung 
sittlich guter Gesinnungen.“ 
P) Der dritte Vorbehalt stellt die Bedingung, 
daß man behufs Vermeidung von Reibungen nicht 
die Trennung von Staat und Kirche als 
die „ideale und beste Form“ zum Prinzip erhebe, 
obschon Verhältnisse eintreten können, wo die tat- 
sächliche Scheidung den relativ besseren Zustand 
verkörpert. Nach den Grundsätzen des Naturrechts 
kann die „ideale Staatsform“ nur darin erblickt 
werden, daß Kirche und Staat in Eintracht mitein- 
ander gehen, um das ewige und zeitliche Glückselig- 
keitsziel ihrer gemeinsamen Untertanen zu sichern. 
Vgl. Leos XIII. Enzyklika „Immortale Dei“ vom 
1. Nov. 1885 (bei Denzinger a. a. O. [719001! 
n. 1707): Itaque inter utramque potestatem 
duacdam intercedat necesse est ordinata 
colligatio: quae quidem coniunctioni non 
immerito comparatur, per quam anims et, 
corpus in homine copulantur. Dies bestätigt 
Trendelenburg (a. a. O. § 170): „Die Theorie 
von Trennung der Kirche vom Staat entsteht nur 
als Notbehelf in den Zeiten unweiser Konflikte: 
der von der Kirche getrennte Staat ist verstümmelt 
und stirbt geistig ab.“ Wo aber die gewaltsame 
Trennung von Staat und Kirche nur das bequeme 
Aushängeschild bildet, um den Katholizismus im 
Namen der Freiheit mit den Mitteln der staatlichen 
Gesetzgebung nur desto schärfer bekämpfen, chika- 
nieren und entwürdigen zu können, wie dies in- 
folge des neuesten Trennungsgesetzes jetzt in Frank- 
reich und Portugal der Fall ist, da kann nicht nur 
nicht von einem „Ideal“, sondern nur von einer 
häßlichen Karikatur die Rede sein. Das feierliche 
Verwerfungsurteil des Papstes Pius X. in seiner 
Enzyklika „Vohementer nos“ vom 11. Febr. 
1906 war nur die gerechte Antwort auf die belei- 
digenden Machenschaften der politischen Machthaber 
Frankreichs (s. Denzinger-Bannwart (1119111 
n. 1995), und gegen das noch schlimmere Tren-
	        
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