Der Liberalismus und der Adel. 105
Mit solcher Verblendung äußerte sich die Selbstüberhebung des klein—
staatlichen Liberalismus schon in seinen ersten Anfängen: Deutschlands
Fürsten sollten sich, wetteifernd in liberalen Taten, bei den alleinigen
Vertretern des gebietenden Zeitgeistes demütig um die Krone des künf—
tigen Reiches bewerben. Als fast zur selben Zeit Herzog Karl August
das weimarische Kriegsheer auflöste und sich mit einigen Wachmannschaften
begnügte, ward er mit Lobsprüchen überhäuft und die Allgemeine Zeitung
schrieb entzückt: „auf die schönste Weise entstand hier die Tat, dort der
Lobpreis derselben, eines unbewußt dem andern.“ Wohl trat ein anderer
Führer des badischen Liberalismus, der Freiherr von Liebenstein, in einer
verständigen Schrift seinem Freiburger Genossen entgegen; jedoch der großen
Mehrheit der Partei hatte Rotteck wie immer aus der Seele gesprochen.
Das Friedensbedürfnis und die wirtschaftliche Not, die kleinstädtische
Unkenntnis der europäischen Machtverhältnisse, das Mißtrauen gegen die
Höfe und nicht zuletzt der stille Zweifel an der Kriegstüchtigkeit der ver—
einzelten kleinen Kontingente — das alles vereinigte sich um den Libera—
lismus der kleinen Staaten tief und tiefer gegen die Armee zu verstimmen.
Rottecks Zornreden wider den Mietlingsgeist der Soldaten weckten lauten
Widerhall, obgleich jedermann wissen mußte, daß der deutsche Soldat nur
durch die gesetzliche Zwangsaushebung auf kurze Zeit dem bürgerlichen
Leben entrissen wurde und sich ungern genug mit seinen armen zwei
Groschen Sold begnügte. Das Eifern und Schelten wider die Söldlinge
galt ein Menschenalter hindurch als ein sicheres Kennzeichen liberaler
Gesinnungstüchtigkeit und bewirkte nur, daß die Offizierkorps sich mehr
und mehr den streng konservativen Anschauungen zuwendeten.
Dies Mißtrauen des Liberalismus gegen das Heer hing eng zusammen
mit dem ingrimmigen Adelshasse, der sich in allen Zeitungen und Flug—
schriften der Oppositionsparteien aussprach. Der Sondergeist der Land—
schaften und Stände war Deutschlands alter Fluch; alle Klassen, und
keineswegs der Adel allein, hatten an diesen alten nationalen Sünden
ihren reichen Anteil. Wie einst der Trotz der großen Kommunen am
Ausgang des Mittelalters das Ansehen der Reichsgewalt mit zerstören,
die Reichsreformversuche des sechzehnten Jahrhunderts mit vereiteln half,
so trug auch jetzt das Bürgertum an dem neu erwachenden widerwär—
tigen Klassengezänk mindestens ebensoviel Schuld wie der Adel. Auch
hier rächte sich der literarische Ursprung unseres Liberalismus. Da bei
dem Aufschwunge der neuen Kunst und Wissenschaft nur wenige Edel—
leute mitgewirkt hatten, so entstand in den gebildeten Mittelklassen neben
einem wohlberechtigten Selbstgefühle zugleich eine gehässige Verachtung gegen
den Adel: man redete, als sei der Verstand dem Edelmanne von Natur
versagt. Viele der literarischen Führer der Nation hatten in dem demü—
tigenden Verhältnissen ihrer entbehrungsreichen Jugend, manche als Hof—
meister adliger Häuser, den Kastenhochmut kennen und hassen gelernt.