Metadata: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

26 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
schmackt süßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geschlechts, 
welche einst in dieser sentimentalen Luft aufwuchsen, wurden dadurch mit 
einem solchen Ekel erfüllt, daß sie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter 
Empfindung vermieden. Der weichliche Vielschreiber H. Clauren sagte 
dem Geschmacke der großen Lesewelt am besten zu. Die eleganten Damen 
erfreuten sich an den verhimmelten Stahlstichen und den rührenden No— 
vellen der modischen T Taschenbücher; Urania, Aurora, Alpenrosen, Ver— 
gißmeinnicht oder Immergrün stand auf den Titelblättern der zierlichen 
goldgeränderten Bändchen zu lesen. Obersachsen, das vormals so oft 
durch starke reformatorische Geister entscheidend in den Gedankengang der 
Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptsitz dieser 
Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einst von dem jungen Goethe 
verspottete „Gottsched- Weiße Gellertsche Wasserflut“ wieder über das 
schöne Land hereinbreche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor 
Hell mit einigen anderen ebenso sanftmütigen Poeten allwöchentlich zum 
„Dichtertee“ zusammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit 
wechselseitig ihre faden, des chinesischen Getränkes würdigen Novellen, die 
sodann in der vielgelesenen „Abendzeitung“ veröffentlicht wurden. Karl 
Böttiger aber, der unaufhaltsamste der Rezensenten, beeilte sich, wie Goethe 
sagte, den Lumpenbrei der Pfuscher und der Schmierer zum Meisterwerk 
zu stempeln. 
Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbestadt übergesiedelt 
war, zog sich von diesem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward 
offenbar, daß die geheimnisvolle „Poesie der Poesie“, deren die Roman- 
tiker sich rühmten, im Grunde nur geistreiche Kennerschaft war. Er 
zählte, obwohl ihn seine Bewunderer dicht hinter Goethe stellten, doch 
zu den Naturen, die mehr sind als sie leisten. Da er von dem über- 
mächtigen schöpferischen Drange des Dichters jetzt nur noch selten ergriffen 
ward, so warf er sich mit schönem Eifer, mit seiner gepriesenen „schnellen 
Fühlbarkeit“ auf die Erforschung der Shakespearischen Dramatik. Was 
er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen 
Briten tat, ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutsche Leben als die 
formlosen Romane und die literarisch -satirischen Märchendramen seiner 
Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantasie erschienen, 
weil sie mit bewußter Absichtlichkeit selber sagten, daß ihnen „der Ver- 
stand so gänzlich fehle“. Wie vielen jungen Poeten und Schauspielern 
ist in dem alten Hause am Altmarkte die erste Ahnung von dem eigent- 
lichen Wesen der Kunst aufgegangen, wenn der Dichter an seinen viel- 
gerühmten Leseabenden mit wahrhaft kongenialer Kraft die ganze Welt der 
Shakespearischen Gestalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die 
Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudissin fand es bald unbegreif- 
lich, wie er nur hätte leben können bevor er diesen Mann gekannt. Tieck 
war früh berühmt geworden und erschien schon im Mannesalter wie ein
	        
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