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Unter „Usurpation“ versteht der heutige Sprachgebrauch
eine unrechtmäßige Besitzergreifung, d. h. eine Besitzergreifung, die
sich auf kein Recht gründet 2). „Usurpirt“ neunen wir daher eine
Staatsgewalt, welche von einem Subjekte im eigenen Namen that-
sächlich in Besitz genommen ist, resp. ausgeübt wird, ohne daß dieses
Subjekt ein Recht auf solchen Besitz, resp. solche Ausübung derselben
hats). Da nun aber das Subjekt der Staatsgewalt ein zwiefaches
ist, nämlich der Staat selbst und sein Organ 4), so müssen wir
zwei Hauptfälle der Usurpation unterscheiden: entweder hat der
Staat selbst kein Recht der Herrschaft über Diejenigen, welche er
faktisch beherrscht oder zu beherrschen versucht, oder die an sich berech-
tigte Herrschaft des Staats wird von einer Person innegehabt, welche
sich die Repräsentation des Staats ohne Recht anmaßt. Jeder dieser
beiden Hauptfälle läßt wiederum zwei Möglichkeiten zu. Die Herr-
schaft des Staates kann entweder absolut unberechtigt sein, weil der
Cconcrete) Staat überhaupt nicht zu Recht besteht, oder nur relativ,
d. h. in Beziehung auf einen Theil seines Gebiets, resp. seiner
Unterthanen: ein Beispiel der erstern Möglichkeit gibt der Belgische
Staat von der Proklamirung seiner Unabhängigkeit bis zu seiner
endlichen Legitimirung; als Beispiele der relativen Usurpation führen
wir an die Vereinigung Venetiens mit Oesterreich (1797), die In-
korporation des nordwestlichen Deutschlands in das französische Kaiser-
reich (1810). Innerhalb eines Staates führt die Usurpation der
Staatsgewalt entweder eine Veränderung der Staatsform mit sich
oder läßt die Staatsform unberührt, je nachdem ein dem rechtmäßigen
Organ der Art nach gleiches oder ungleiches Organ sich der Herr-
schaft bemächtigt: bei der Englischen Revolution von 1688, der
französischen von 1830 blieb die monarchische Staatsform; dagegen
trat in den Jahren 1793 und 1848 in Frankreich die Republik an
2) Usurpare hat in der Römischen Rechtssprache eine vierfache Bedeutung;
1. — häufig gebrauchen; 2. = zum Schutz seines Rechts Gebrauchshandlungen
vornehmen, also den Verjährungsbesitz eines Andern unterbrechen; 3. = sich ein.
Recht anmaßen; 4. = sich in den Besitz einer Sache setzen, auf die man kein
Recht hat. Die letzte Bedeutung ist die herrschende geworden.
3) Im Wesentlichen übereinstimmend: Mohl, Encyklopädie, S. 235. Heffter,
Völkerrecht, S. 325, definirt die Usurpation als „Souverainetät de facto“.
4) Diese in der jetzigen Theorie fast allgemein anerkannte Wahrheit ist schon.
ausgesprochen von Hugo Grotius, De J. B. et P., II, 9, 8: „Imperium quod
in rege ut in capite, in populo manet ut in toto, cuius pars est caput“", cs.
eod. II, 16, 16.