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7. Heimath= Wesen.
In Sachen des Ortsarmenverbandes Stettin wider den Ortsarmenverband Berlin war zum Nachweise
der Erstattungspflicht unter Beweis gestellt, daß der Ehemann der verpflegten Person im verklagten Armen-
verbande den Unterstützungswohnsitz habe. Durch die Beweisaufnahme stellte sich heraus, daß die Verpflegte
gar nicht verheirathet gewesen war, daß sie aber durch mehr als zweijährigen Aufenthalt Unterstützungs-
wohnsitz im verklagten Armenverbande erworben hatte. Der erste Richter verurtheilte darauf den Verklagten.
Das Bundesamt hat diese Entscheidung am 25. September 1875 bestätigt und zur Begründung angeführt:
Es ist zunächst über die Identität der in der Klage als Wittwe Z. bezeichneten, von dem
Kläger im März und April 1874 unterstützten Person mit der unverehelichten Anna Marie D.
kein Zweifel. Auch hat der Verklagte in II. Instanz nicht bestritten, daß die unverehelichte D.,
wie der erste Richter auf Grund ihres eidlichen Zeugnisses angenommen hat, sich vor ihrem
4 Wochen vor Weihnachten 1873 erfolgten Umzuge nach Berlin 6 Jahre lang in Stettin auf-
gehalten und dadurch daselbst in Gemäßheit des §. 10 des Pweichsesete vom 6. Juni 1870
Unterstützungswohnsitz erworben habe. Daß in der Klage der unterstützten Person eine unrichtige
Qualität beigelegt und demgemäß der Erstattungsanspruch auf hier nicht zutreffende Gesetzes-
bestimmungen gegründet worden ist, ließ nicht die Abweisung der Klage geboten erscheinen,
nachdem sich durch die stattgehabte Beweisaufnahme herausgestellt hatte, daß der Anspruch, wenn
auch auf Grund anderer, in der Klage nicht angeführten Thatsachen gerechtfertigt sei. Die zur Ent-
scheidung über die aus der öffentlichen Unterstützung Hülfsbedürftiger entstehende Streitigkeit
berufenen Behörden, sind durch keine gesetzliche Bestimmung verhindert, solche nachträglich ermit-
telte Thatsachen ihrer Entscheidung zum Grunde zu legen, welche den erhobenen Anspruch auf
Erstattung der derselben Person gewährten Armenunterstützung unter einem andern Gesichtspunkte
begründen. Wenn nach §. 46 des preußischen Ausführungsgesetzes vom 8. März 1871 in der
Klage der Armenverband, dessen Verurtheilung verlangt wird und der Gegenstand des erhobenen
Ansoruchs genau bezeichnet werden soll, so ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der erhobene An-
spruch im Laufe des Verfahrens nachträglich in andrer thatsächlicher Weise als in der Klage
begründet werde.
In Bezug auf die Höhe des Verpflegungssatzes (vergleiche Central-Blatt Seite 697) ist in Sachen
des Ortsarmenverbandes Dresden wider den Ortsarmenverband Bernsdorf, (Erkenntniß vom 25. Sep-
tember 1875) Folgendes bemerkt worden:
Daß das im Findelhause verpflegte Kind hülfsbedürftig war, ist unzweifelhaft, da der zur
Ernährung verpflichtete Vater keine Mittel dazu hergegeben und auch die Mutter angezeigt hat,
daß sie sich und die Kinder nicht ernähren könne und kein Obdach mehr habe. Nach den Akten
der Armenversorgungsbehörde zu Dresden hat nämlich der Schneidergeselle K. die Hergabe von
Mitteln zur Unterhaltung des Kindes geradezu verweigert und die Mutter hat angezeigt, daß sie
nur für sich und ihr Brustkind ein Unterkommen gefunden habe. Daß eine Mutter, welche ein
Kind an der Brust hat, im Stande sein sollte, für sich und zwei Kinder den Lebensunterhalt zu
beschaffen, kann als selbstverständlich nicht vorausgesetzt werden, vielmehr kann in einem solchen
Falle mit auf das pflichtmäßige Ermessen der Armenbehörde, daß die Mutter zur Ernährung des
älteren Kindes nicht im Stande sei, Gewicht gelegt werden, da hierbei die Individualität der
Mutter entscheidend ist. Jedenfalls hatte die Mutter für das Kind nicht gesorgt.