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Muß es hiernach auch im vorliegenden Falle bei der Regel verbleiben, daß derjenige Land-
armenverband der zur Kostenerstattung verpflichtete sei, in dessen Bezirk die Hülfsbedürftigkeit
eines Landarmen hervorgetreten ist, so erscheint der Verklagte nicht als der Verpflichtete, da die
Wittwe L. sich, ohne bis dahin die öffentliche Armenunterstützung in Anspruch nehmen zu müssen,
am 21. November 1873 von Stolpe nach Greifswald begeben, die Kosten ihrer Behandlung und
Verpflegung in dem dortigen Universitäts -Krankenhause bis zum 17. Februar 1874 inkl. aus
eigenen Mitteln bestritten hat, und erst dann in Greifswald, also außerhalb des Bezirks des
Landarmenverbandes von Alt-Pommern, hülfsbedürftig geworden ist.
Durch eine der Frau, resp. den Kindern gewährte Unterstützung gilt das Familienhaupt als unterstützt,
selbst wenn die Frau in Folge der böslichen Verlassung auf Grund des §. 17 des Reichsgesetzes vom 6. Juni
1870 einen eigenen Unterstützungswohnsitz erworben hatte und die Kinder diesen letzteren auf Grund des
§. 19 al. 2 theilten. So erkannt in Sachen Schleswig wider den Landarmenverband der Provinz
Schleswig-Holstein am 18. September 1875, aus folgenden Gründen:
Die Parteien streiten nur darüber, ob der Bäcker H., welcher nach dem Zugeständuisse des
Verklagten vor 8—9 Jahren Frau und Kinder, in Schleswig wohnend, böslich verlassen hat,
durch seine seit dem 1. Juli 1871 fortgesetzte Abwesenheit aus dieser Stadt des dortigen Hülfs-
domizils beim Eintritte der Hülfsbedürftigkeit am 29. September 1874 verlustig gegangen war,
obgleich Frau und Kinder desselben bereits seit dem 1. August 1871 Gegenstand der Armen-
pflege sind.
In Uebereinstimmung mit Präjudikaten des Bundesamtes hat die Schleswig-Holsteinsche
Deputation für das Heimathwesen entschieden, daß die der Frau und den Kindern gewährte
öffentliche Unterstützung dem r2c. H. mittelbar zu Theil geworden sei, und den Lauf der Verlust-
frist nach §. 27 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 sistirt habe.
Mit Unrecht findet Kläger sich durch diese Entscheidung beschwert.
Die wirthschaftliche Selbständigkeit der böslich verlassenen Frau, welche sie nach §. 17 des
Reichsgesetzes befähigt, auch während bestehender Ehe für sich und die in ihrem Hausstande ver-
bliebenen Kinder ein eigenes Hülfsdomizil, unabhängig von demjenigen des Mannes, zu erwerben,
löst das Verhältniß nicht auf, in welchem Frau und Kinder zu dem Familienhaupte als Angehörige
desselben stehen Nach wie vor der böslichen Verlassung ist der Mann verpflichtet, Frau und
Kinder zu schützen und zu ernähren, und rechtlich besteht die Familiengemeinschaft ungeachtet der
faktischen Trennung fort. Nicht die Unselbständigkeit der Familienglieder in Bezug auf Erwerb
und Verlust des Unterstützungswohnsitzes, sondern das Band der Familienangehörigkeit bedingt
es aber, daß eine den Angehörigen zugewendete öffentliche Unterstützung als mittelbar dem Fa-
milienhaupte gewährt angesehen werden muß. Dieser Grundsatz, welchen das Bundesamt zuerst
in Sachen Charlottenburg wider Ristadt (Erkenntniß vom 3. Dezember 1872 — Wohlers, Samm-
lung Heft II. Seite 18 f.) und in zahlreichen weiteren Entscheidungen ausgesprochen hat, findet
seine gesetzliche Unterlage speziell in dem §. 4 des Freizügigkeits-Gesetzes vom 1. November 1867,
wonach die Aufenthaltserlaubniß demjenigen versagt werden darf, der weder hinreichende Kräfte
noch hinreichendes Vermögen besitzt, um sich und seinen arbeitsunfähigen Angehörigen den
nothwendigen Lebensunterhalt zu verschaffen. Wenn Kläger eine Ausnahme von dem gedachten
Grundsatze dann gemacht wissen will, sobald Angehörige nicht mehr dem Unterstützungswohnsitze
des Familienhauptes folgen, so statuirt er eine Beschränkung, welche dem Freizügigkeits-Gesetze