Deutsche Sprach- und Sagenforschung. 311
der Zeit ergriffen; selbst die unästhetische Natur des Freiherrn vom Stein
blieb davon nicht unberührt. An den Bildern der heimischen Vorzeit er—
baute sich das nationale Selbstgefühl und Vorurtheil. Nur unter den
Germanen — das stand dem jungen Geschlechte fest — gedieh die Ur—
sprünglichkeit persönlicher Eigenart; in Frankreich hatte die Natur, wie
A. W. Schlegel spottete, freigebig von einem einzigen Originalmenschen
dreißig Millionen Exemplare aufgelegt. Nur aus deutscher Erde sprang
der Quell der Wahrheit; unter den Wälschen herrschte der Lügengeist —
so hieß jetzt kurzerhand Alles was der romantischen Jugend unfrei, lang-
weilig, unnatürlich erschien: die akademisch geregelte Kunst, die mechanische
Ordnung des Polizeistaates, die Nüchternheit der harten Verstandesbildung.
Unter den Schriften jenes Heidelberger Kreises wurde keine so folgen-
reich wie des Knaben Wunderhorn, die Sammlung alter deutscher Lieder
von Arnim und Brentano. Der frische Junge auf dem Titelbilde, wie er
so dahinsprengte auf freiem ungesatteltem Rosse, das Liederhorn in der
erhobenen Hand schwingend, schien gleich einem Herold zum fröhlichen
Kampfe gegen den Lügengeist zu rufen. Nicht ohne Besorgniß sendeten
die Freunde diese übelangeschriebenen Lieder in die bildungsstolze Welt
hinaus und baten Goethe sie mit dem Mantel seines großen Namens zu
decken. Ihnen lag daran, daß Deutschland nicht so verwirthschaftet werde
wie die abgeholzten Berge am Rhein; sie hofften auf eine neue Zeit voll
Sang und Spiel und herzhafter Lebensfreude, wo die Waffenübung
wieder die allgemeine höchste Lust der Deutschen wäre und Jedermann so
froh und frei durch die Welt zöge wie heutzutage nur „die herrlichen
Studenten“, die letzten Künstler und Erfinder in dieser prosaischen Zeit.
Die Sammlung erschien zur rechten Stunde; denn eben jetzt begann
Schiller's Tell auf weite Kreise zu wirken und weckte überall die Empfäng-
lichkeit für die einfältige Kraft der Altvordern. Man fand der freudigen
Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit süßem
Schall erzählten, wie überschwänglich reich dies alte Deutschland mit der
Gottesgabe der Poesie begnadet gewesen, welche Fülle von Liebe und Sehn-
sucht, Muth und Schelmerei tausende namenloser Studenten und Lands-
knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunstlosen Liedern niedergelegt
hatten. Herder's große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut
Aller sei, fand nun erst allgemeines Verständniß. Nachher gab v. d. Hagen
in Berlin die Nibelungen heraus, und so schülerhaft die Bearbeitung war,
die mächtigen Gestalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem-=
hild erregten in der Seele der Leser doch die frohe Ahnung, daß unser
Volk sechshundert Jahre vor Goethe schon einmal eine große Zeit der
Dichtung gesehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter-
lich und deutsch galt fast für gleichbedeutend; man warf die grundver-
schiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander,
und die Begeisterten ließen sich's nicht träumen, daß die verhaßten Fran-