heute noch ein mit unfehlbarem Gedächtnis ausgerüsteter Mann,
der über Verbleib und Inhalt aller Ein- und Ausgänge stets zu—
verlässig Bescheid wußte. Moderne Hilfsmittel wie Kartotheken gab
es nicht oder waren, wie Schreib= und Durchdruckmaschinen, ver-
pönt. Es konnte kaum eine andere Zentralbehörde geben, wo ge-
rade von dieser Klasse von Beamten bei knappem Gehalt und
mäßigen Ehren Tüchtigeres geleistet worden wäre.
Als Außenseiter, wenn nicht gar als Eindringling, kam ich
in die politische Abteilung. Kiderlen knurrte gegen Caprivi: „Ein
Pferd, das im Freien gute Dienste tut, nimmt man nicht in den
Stall.“ Dabei tappte sein kleiner grinsender Bullenbeißer, den er
in Kospoli aufgelesen hatte und dem alles erlaubt war, auf dem
Arbeitstisch zwischen Akten und Schreibgeräten herum. Bei dem
Schwaben war vieles Laune, gute und schlechte, je nachdem. Manch-
mal war schwer mit seinem Eigensinn auszukommen, im äußersten
Falle mußte man ihn von der Gemütsseite fassen, dann lenkte er
ein. Wen er leiden mochte, dem war er treu und siets sehr gefällig.
Er schrieb einen leichten, natürlichen Stil, sein Gänsekiel beherrschte
den diplomatischen Ausdruck virtuos und ließ in Briefen oft einen
lustigen Einfall einfließen.
Holstein, dem großen Unbekannten, war ich ein völlig Fremder.
Auch er konnte von meiner Einberufung, die Caprivi natürlich mit
Zustimmung des Staatssekretärs, im übrigen aber eigenwillig ver-
fügt hatte, nicht erbaut sein. Beim ersten Betreten der Schwelle
dieses unheimlichen Verwalters tiefster Geheimnisse mußte ich mir
vorkommen wie der Schüler im Faust. Doch ging es ohne alle
Beklommenheit ab, da er mich wie einen alten Bekannten will-
kommen hieß und sich sogleich mit aller Offenheit über die Feind-
schaften aussprach, die er sich außerhalb und innerhalb des Amtes
dadurch zugezogen habe, daß er nach Bismarcks Rücktritt auf
seinem Posten verblieben sei und ohne ehrgeizige Wünsche von dem
ihm zugewiesenen Winkel aus dem Kaiser und dem Reich nach
besten Kräften diene. Innerhalb der Abteilung A bestehe keine
vollständige Harmonie, mit Herrn v. Kiderlen, dem Grafen Pour-
tales und Herrn v. Lindenau sei er ganz einig, nur einer seiner
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