Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

b) Wahlverfahren. 
Von 
Dr. Hermann Rehm, 
0. Professor der Rechte an der Universität Strassburg. 
Literatur : 
S. vorigen Abschnitt u. Denischrift des bad. Min. des Inneren 1913, 
I. Die verschiedenen Systeme. Fünf Gegensätze sind von Bedeutung: 1. öffent- 
liche und geheime, 2. direkte und indirekte Wahl; 3. Termins- und Fristwahl, je nachdem die Wähler 
des Stimmbezirkes in einer Versammlung gleichzeitig, also zu gleicher Stunde (in einem Termine) 
wählen oder innerhalb einer nach Anfang und Ende bestimmten Frist wählen können, wann sie 
wollen, 4. Einer- und Mehrerwahl, je nachdem in ein- oder mehrmännigen Wahlkreisen gewählt 
wird. In Frankreich heisst die Mchrerwahl Listenwahl. Das Wort bedeutet aber auch noch anderes. 
5. Reine Mehrerwahl (Majorz) oder modifizierte (Verhältniswahl). 
&& I. Die Gründe der Verschiedenheit. Auch bei der Regelung des Wahlver- 
fahrens stehen sich Einzel- (= Partei-) und Allgemeininteresse gegenüber. Ausschliesslich oder 
doch vorwiegend dem Individualinteresse dienen direkte Wahl, geheime Stimmabgabe, Osffent- 
lichkeit der Wahlhandlung, Zerlegung des Landes in Wahlkreise, kurze Wahlperioden, Verhältnis- 
wahl, Wahlkreiseinteilung durch Regierungsakt, Totalerneuerung. Dem Ordnungs- oder Macht- 
prinzip entsprechen ausschliesslich und vorwiegend indirekte und öffentliche Wahl, möglichst 
grosse und damit mehrmännige Wahlkreise, längere Wahlperioden, gesetzliche Wahlkreiseinteilung, 
Teilerneuerung. 
Auch das Wahlverfahren ist nach den Bedürfnissen von Ort und Zeit verschieden. Die 
Parteien, die die Mehrheit haben, woller ein Verfahren, das die Macht, diejenigen, die die Mehrheit 
erstreben, ein Verfahren, das die Freiheit schützt. In Deutschland strebt der Linksliberalismus nach 
Verhältniswahl, in Frankreich, wo er sonst die Herrschaft besitzt, verwirft er sie. Öffentliche Wahl 
d. h. mündliche Stimmabgabe führt zu Wahlenthaltung der Abhängigen. 
Das relativ beste Wahlverfahren ist das direkte 1. mit geheimer Stimmabgabe, aber öffent- 
licher Wahlhandlung, 2. mit Verhältniswahl bei sehr grossen Wahlkreisen. Bei direkter, geheimer 
und verhältnismässiger Wahl lässt sich das Individualinteresse wirksamer und sicherer zur Geltung 
bringen. Öffentlichkeit der Wahlhandlung bedeutet Erledigung des Wahlgeschäftes unter An- 
wesenheit und damit unter Kontrolle des Gegners. Dagegen dient dem Ordnungsgedanken die 
Bildung grösster Wahlkreise, womöglich nur eines einzigen, aus dem ganzen Lande bestehenden. 
Grosse Wahlkreise sichern eher die Bildung von Mehrheiten und damit die Arbeitsfähigkeit der 
Kammern und verhindern in höherem Masse die Erstickung des Gesamtinteresses durch Lokal- 
interessen. 
II. Reine Mehrheitswahl. Absolute oder einfache Mehrheit bedeutet: mehr 
als die Hälfte der gültigen Stimmen. Relative Mehrheit besagt: die meisten Stimmen. Absolute 
Mehrheit gestattet kleinen Parteien grössere Bewegungsfreiheit (Zählkandidaturen) im ersten 
ahlgange. 
Relative Mehrheit kann schon im ersten Wahlgange gelten; regelmässig findet sie erst im 
zweiten statt. Die relative Mehrheit des zweiten Wahlganges ist entweder en ge re oder romanische 
Wahl. Erstere bildet in Deutschland die Regel. Bei ihr wird nur unter den Kandidaten gewählt, 
die beider ersten Abstimmung Stimmen erhielten; der zweite Wahlgang bildet also nur eine Fort- 
setzung des ersten. Dabei ist wieder möglich: gewählt wird bloss unter den zwei Kandidaten, die 
das erste Mal die meisten Stimmen erhielten (Stichwahlsystem); oder es darf unter allen, die das
	        
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