148 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 8.)
werden. Aber so viel ist sicher: mag Skutari fallen, mag die Tschataldscha-
position erstürmt werden, mag die Türkei ihren ganzen europäischen Land-
besitz bis auf Konstantinopel verlieren, damit sind die Wirren noch keines-
wegs beseitigt; dann geht der Streit erst recht los, wenn es an die Teilung
der Beute, wenn es an die Abgrenzung von Albanien geht, wenn Rumänien
seine wohl nicht ganz unberechtigten Kompensationsforderungen mit vollem
Nachdruck geltend machen wird (sehr richtig! r.), wenn es endlich an die
Verteilung der türkischen Staatsschulden auf die abgetretenen oder abzu-
tretenden Distrikte gehen wird. Was diese Verteilung der türkischen Staats-
schulden betrifft, so sind wir Deutsche ja leider als türkische Staatsgläubiger
auch in hohem Maße daran interessiert. Vermutlich wird man zu dem-
selben Mittel greifen, welches bereits im Jahre 1878 von der Berliner
Konferenz unter Vorsitz des Fürsten Bismarck approbiert worden ist. Man
wird die türkische Staatsschuld auf die abzutretenden Distrikte nach den
Erträgnissen dieser letzteren bemessen. Aber, meine Herren, wie sollen diese
Erträgnisse berechnet werden? Das ist eine Frage, die ganz unabsehbare
Schwierigkeiten in sich schließt, und es wird der ganzen Kunst der euro-
päischen Diplomatie bedürfen, um die Schwierigkeiten dieser Frage zu lösen.
Wir haben in letzter Zeit manche ernste Krisis durchgemacht. Mehr als
einmal schien der Krieg dicht vor der Tür zu stehen. Ich erinnere an den
vor vier Jahren drohenden Zusammenstoß zwischen Gesterreich und Ruß-
land, als Oesterreich Bosnien und die Herzegowina inkorporiert hatte.
Dieser Konflikt, der damals nahe bevorzustehen schien, wurde noch durch
die Staatskunst des Reichskanzlers Fürsten Bülow glücklich beseitigt. Ich
möchte ferner erinnern an die Marokkokrisen, deren friedliche Lösung zeit-
weise ganz unmöglich erschien. Jede kriegerische Verwicklung zwischen zwei
europäischen Großmächten aber muß, wie die Dinge heute liegen, den Riesen-
brand eines Weltkriegs zur Folge haben. Der Ernst der Sachlage, welche
jetzt durch die Balkankrise geschaffen worden ist, steht schwerlich hinter der
Marokkokrisis zurück. Wir können und dürfen gegen die auch uns drohende
Kriegsgesahr die Augen nicht verschließen. Wir müssen unsere Wehrmacht
verstärken, um jedem feindlichen Angriff zuversichtlich entgegensehen zu können.
Solange wir die Starken sind, solange wird uns der Friede erhalten werden.
Nur so lange und nicht einen Tag länger! Die Erhaltung unserer Wehr-
kraft und Stoßkraft muß deshalb unsere vornehmste Sorge sein. Und so
schließe ich mit der Bz zuversichtlichen Erwartung, daß diese Vorlage hier von
unserem Hause einmütig oder doch mit überwältigender Majorität an-
genommen werden wird und daß wir willig die Opfer auf uns nehmen,
welche das Vaterland von uns verlangt. (Bravol r.) Möge das Deutsch-
land von 1913 an Opferwilligkeit nicht zurückstehen hinter dem Deutschland
von 1813!
Abg. Dr. Müller-Meiningen (Fortschr. Vp.): Die Vorgeschichte
dieser ganzen Vorlage zwingt uns zur gewissenhaftesten Prüfung der-
selben. Unsere Zeit ist ja ungeheuer schnellebig und vergißt heute, was
gestern gewesen ist. Aber das kann ich wohl behaupten, es gibt keinen
Staat der Welt — nicht einmal Rußland nehme ich aus —, in dem der
Volksvertretung vom konstitutionellen Standpunkt aus das zugemutet wird,
was hier dem Reichstage zugemutet wird. Was ich meine, ist das: der-
selbe Mann, der uns 1911 und 1912 andere Militärvorlagen hier vorgelegt
und vertreten hat, der uns damals lehrte, daß jetzt alle Hauptlücken auf
Jahre hinaus vollständig ausgefüllt seien, vertritt geradezu wie eine Selbst-
verständlichkeit auch diese neue Vorlage, die dem vollkommen entgegen ist,
was er selbst hier jahrelang vertreten hat. Der Herr Kriegsminister ist
wahrhaftig in dieser Situation nicht zu beneiden. Es ist kein Honiglecken,