Full text: Deutsches Kolonialblatt. XVII. Jahrgang, 1906. (17)

und Abstoßende in den Bewegungen immer wieder 
zum Vorschein. Erst, wenn er den Mund zu ver- 
traulicher Rede öffnet, atmen plötzlich seine melan- 
cholischen Züge, die uns soeben noch abgestoßen und 
unser Mitleiden erregt hatten, Offenheit und Freund- 
lichkeit, und wir sühlen uns zu diesem gutmütigen 
Menschen unwillkürlich hingezogen. 
Das Gespenst, das ihn überall hin verfolgte, 
war der Küftenbewohner. Letzterer stellte sich ent- 
weder als Feind oder als rücksichtsloser Bedrücker 
ein. In beiden Fällen zog meistens der Balninger 
den kürzeren. Im Laufe der Zeit bildete er sich 
dann die Überzeugung, er wäre überhaupt ein unter- 
geordnetes Wesen, das sich vergebens gegen die An- 
feindungen unb beständigen ungerechten Forderungen 
des Nachbarstammes sträuben würde. Dies trifft 
vor allem für den Baininger im Norden und Westen 
zu, der am meisten den Angriffen der Küstenbewohner 
ausgesetzt war und in ein sklavisches Abhängigkeits- 
verhältnis geriet, infolgedessen sein Charakter jede 
Selbständigkeit verloren hat. 
Und doch unter dieser unscheinbaren, ja sogar 
haßlichen äußeren Hülle des Balningers lebt auch 
ein „Gottes-Funke“, eine Seele; es regen und be- 
tätigen sich in ihm Gelsteskräfte, so gut wie im ge- 
sitteten Europäer, wenn auch nicht in demselben 
Maße. Er zeigt religlöses Gefühl, moralisches 
Empfinden, äußert ästhetlschen Sinn; er trägt Liebe 
zu seiner Familie, übt Gastfreundschaft und ist mit 
Begrüßungs= und Höflichkeitsformeln vertraut; er 
behauptet sein Eigentum gegen fremde Eingriffe, 
rächt das an ihm begangene Unrecht, feiert Sieges- 
und Erntefeste, hölt Lelchenschmaus beim Tode eines 
der Seinigen und zußert seine Gemütsbewegungen 
durch Scherz und Trauer. · 
Außergewöhnliche Naturerscheinungen, plötzlicher 
Tod eines Stammesgenossen, ein unerwartetes Ge- 
räusch erschrecken ihn und regen ihn zum Nachdenken 
an. Er wird sich natürlich keinen tiefen spekulativen 
Untersuchungen nach dem Grund der Dinge hin- 
geben. Dafür ist er zu sehr Augenblicksmensch. 
Sobald der erste Eindruck des Staunens oder der 
Gefahr vorüber ist, beginnt er bereits wieder zu ver- 
gessen, was ihn noch kurz vorher ergriffen, in Ver- 
wunderung oder Schrecken gesetzt hat. Von einem 
unsichtbaren, mächtigen Wesen ist er aber überzeugt, 
wenn er sich auch keine Vorstellung hierüber machen 
kann. 
Der Baininger, so abgestumpft und materiell er 
uns auch entgegenkommt, weiß recht gut zwischen gut 
und böse zu unterscheiden. Freilich irrt er sich in 
vielen Dingen und verwechselt die Begriffe. Auf- 
fallend ist es, daß der Baininger, ja auch der Be- 
wohner des nördlichen Teiles der Gazelle, unter 
„schlecht" in erster Linie die Vergehen gegen das 
sechste Gebot begreist. Übertretungen gegen die 
eheliche Treue, Diebstahl, Mord, Menschenraub 
werden als moralisch schlecht bezeichnet und find oft 
Ursachen von Kriegen, Totschlag und langer Feind- 
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schaft. Kannibalismus und Treubruch dagegen werden 
nicht für sittlich schlecht gehalten, da sie seit undenk- 
lichen Zeiten unter ihnen gang und gäbe sind. 
Fragen wir uns nun, aus welchen Beweggründen 
der Baininger im gewöhnlichen Leben handelt, so hält 
es schwer, eine adäquate Antwort zu geben. Sehr 
oft, zumal in gleichgültigen Dingen, läßt er sich bloß 
durch die hergebrachte Gewohnheit bestimmen. Ge- 
wisse Handlungen, die von seinen Stammesgenossen 
allgemein als gut oder indifferent angesehen werden, 
wird er, ohne sich je Rechenschaft über ihre 
Sittlichkeit oder Erlaubthelt zu geben, auch vornehmen. 
Anders verhält es sich dagegen, wenn er durch selne 
Natur oder momentane Stimmung oder Laune zum 
Handeln bewogen wird. Sicher wird er sich nicht 
durch unnatürliche, religlöse Rücksichten zu dieser oder 
jener Tat bestimmen oder sich von derselben abhalten 
lassen, sondern, wie es gerade die Umstände mit sich 
bringen, den augenblicklichen Nutzen oder Schaden, 
den die Handlung zur Befriedigung seiner Sinne — 
er ist ja Sinnesmensch — beiträgt, vor allen Dingen 
im Auge behalten und als Ausschlagspunkt gelten 
lassen. Ein Gewissen hat auch er, d. h. jene innere 
Stimme, die uns im Namen des göttlichen Gesetz- 
gebers die ewig geltenden Grundgesetze in Erinnerung 
bringt und uns zu deren Beobachtung verpflichtet, 
allein sein schwacher Wille und die in ihm verdun- 
kelte Vernunft werden ihn oft kaum zu einigem 
Nachdenken und zu einer Wahl kommen lassen. Doch 
mag sein Sittlichkeitsgefühl noch so abgestumpft sein, 
ein gewisses Mißbehagen nach vollbrachter böser Tat 
empfindet auch er, wenn auch nur für einen Augen- 
blick. Man kann diese Wirkung jedesmal beobachten, 
wenn er sich uns gegenüber eine moralische Blöße 
gibt. Sein Benehmen in Verschuldungen anderer 
Art, z. B. bei der Arbeit, in Mißachtung gegebener 
Befehle u. a. m., zeigt niemals dieselbe Verwirrung 
und dasselbe Schamgefühl. Die Phllosophen, die 
lehren, daß die Regungen des Gewissens nur der 
Erzlehung ihr Entstehen verdanken, können bei auf- 
merksamer Beobachtung des wilden Bainingers täg- 
lich das Gegenteil ihrer Behauptung sich bewahr- 
heiten sehen. 
Ein auffallender Charakterzug des Bainingers, 
der sich übrigens auch bei Individuen anderer Süd- 
seestämme bemerkbar macht, ist die äußerliche sloische 
Ruhe und Gleichgültigkeit, die er gerade in Fällen, 
wo es dem Europäer fast unmöglich wird, die Vor- 
gänge seines Innern in seinem Gesichtsausdrucke zu 
verheimlichen, an den Tag legt. Ich denke hier 
besonders an. Beleidigungen und grobe Wahrheiten, 
die ihm gesagt werden, oder an andere Vorfälle, die 
seinen Unwillen erregen, seinen Zorn in Aufwallung 
bringen, oder seine Leidenschaften reizen können. 
Die Beherrschung seiner Gefühlsregungen und seines 
Temperaments ist natürlich nur äußerlich; denn sein 
innerer Mensch bäumt sich bei solchen Gelegenheiten 
auch auf und knirscht; er schämt sich auch und brütet 
auf Rache und Vergeltung. Wenn er sich jedoch
	        
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