und Abstoßende in den Bewegungen immer wieder
zum Vorschein. Erst, wenn er den Mund zu ver-
traulicher Rede öffnet, atmen plötzlich seine melan-
cholischen Züge, die uns soeben noch abgestoßen und
unser Mitleiden erregt hatten, Offenheit und Freund-
lichkeit, und wir sühlen uns zu diesem gutmütigen
Menschen unwillkürlich hingezogen.
Das Gespenst, das ihn überall hin verfolgte,
war der Küftenbewohner. Letzterer stellte sich ent-
weder als Feind oder als rücksichtsloser Bedrücker
ein. In beiden Fällen zog meistens der Balninger
den kürzeren. Im Laufe der Zeit bildete er sich
dann die Überzeugung, er wäre überhaupt ein unter-
geordnetes Wesen, das sich vergebens gegen die An-
feindungen unb beständigen ungerechten Forderungen
des Nachbarstammes sträuben würde. Dies trifft
vor allem für den Baininger im Norden und Westen
zu, der am meisten den Angriffen der Küstenbewohner
ausgesetzt war und in ein sklavisches Abhängigkeits-
verhältnis geriet, infolgedessen sein Charakter jede
Selbständigkeit verloren hat.
Und doch unter dieser unscheinbaren, ja sogar
haßlichen äußeren Hülle des Balningers lebt auch
ein „Gottes-Funke“, eine Seele; es regen und be-
tätigen sich in ihm Gelsteskräfte, so gut wie im ge-
sitteten Europäer, wenn auch nicht in demselben
Maße. Er zeigt religlöses Gefühl, moralisches
Empfinden, äußert ästhetlschen Sinn; er trägt Liebe
zu seiner Familie, übt Gastfreundschaft und ist mit
Begrüßungs= und Höflichkeitsformeln vertraut; er
behauptet sein Eigentum gegen fremde Eingriffe,
rächt das an ihm begangene Unrecht, feiert Sieges-
und Erntefeste, hölt Lelchenschmaus beim Tode eines
der Seinigen und zußert seine Gemütsbewegungen
durch Scherz und Trauer. ·
Außergewöhnliche Naturerscheinungen, plötzlicher
Tod eines Stammesgenossen, ein unerwartetes Ge-
räusch erschrecken ihn und regen ihn zum Nachdenken
an. Er wird sich natürlich keinen tiefen spekulativen
Untersuchungen nach dem Grund der Dinge hin-
geben. Dafür ist er zu sehr Augenblicksmensch.
Sobald der erste Eindruck des Staunens oder der
Gefahr vorüber ist, beginnt er bereits wieder zu ver-
gessen, was ihn noch kurz vorher ergriffen, in Ver-
wunderung oder Schrecken gesetzt hat. Von einem
unsichtbaren, mächtigen Wesen ist er aber überzeugt,
wenn er sich auch keine Vorstellung hierüber machen
kann.
Der Baininger, so abgestumpft und materiell er
uns auch entgegenkommt, weiß recht gut zwischen gut
und böse zu unterscheiden. Freilich irrt er sich in
vielen Dingen und verwechselt die Begriffe. Auf-
fallend ist es, daß der Baininger, ja auch der Be-
wohner des nördlichen Teiles der Gazelle, unter
„schlecht" in erster Linie die Vergehen gegen das
sechste Gebot begreist. Übertretungen gegen die
eheliche Treue, Diebstahl, Mord, Menschenraub
werden als moralisch schlecht bezeichnet und find oft
Ursachen von Kriegen, Totschlag und langer Feind-
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schaft. Kannibalismus und Treubruch dagegen werden
nicht für sittlich schlecht gehalten, da sie seit undenk-
lichen Zeiten unter ihnen gang und gäbe sind.
Fragen wir uns nun, aus welchen Beweggründen
der Baininger im gewöhnlichen Leben handelt, so hält
es schwer, eine adäquate Antwort zu geben. Sehr
oft, zumal in gleichgültigen Dingen, läßt er sich bloß
durch die hergebrachte Gewohnheit bestimmen. Ge-
wisse Handlungen, die von seinen Stammesgenossen
allgemein als gut oder indifferent angesehen werden,
wird er, ohne sich je Rechenschaft über ihre
Sittlichkeit oder Erlaubthelt zu geben, auch vornehmen.
Anders verhält es sich dagegen, wenn er durch selne
Natur oder momentane Stimmung oder Laune zum
Handeln bewogen wird. Sicher wird er sich nicht
durch unnatürliche, religlöse Rücksichten zu dieser oder
jener Tat bestimmen oder sich von derselben abhalten
lassen, sondern, wie es gerade die Umstände mit sich
bringen, den augenblicklichen Nutzen oder Schaden,
den die Handlung zur Befriedigung seiner Sinne —
er ist ja Sinnesmensch — beiträgt, vor allen Dingen
im Auge behalten und als Ausschlagspunkt gelten
lassen. Ein Gewissen hat auch er, d. h. jene innere
Stimme, die uns im Namen des göttlichen Gesetz-
gebers die ewig geltenden Grundgesetze in Erinnerung
bringt und uns zu deren Beobachtung verpflichtet,
allein sein schwacher Wille und die in ihm verdun-
kelte Vernunft werden ihn oft kaum zu einigem
Nachdenken und zu einer Wahl kommen lassen. Doch
mag sein Sittlichkeitsgefühl noch so abgestumpft sein,
ein gewisses Mißbehagen nach vollbrachter böser Tat
empfindet auch er, wenn auch nur für einen Augen-
blick. Man kann diese Wirkung jedesmal beobachten,
wenn er sich uns gegenüber eine moralische Blöße
gibt. Sein Benehmen in Verschuldungen anderer
Art, z. B. bei der Arbeit, in Mißachtung gegebener
Befehle u. a. m., zeigt niemals dieselbe Verwirrung
und dasselbe Schamgefühl. Die Phllosophen, die
lehren, daß die Regungen des Gewissens nur der
Erzlehung ihr Entstehen verdanken, können bei auf-
merksamer Beobachtung des wilden Bainingers täg-
lich das Gegenteil ihrer Behauptung sich bewahr-
heiten sehen.
Ein auffallender Charakterzug des Bainingers,
der sich übrigens auch bei Individuen anderer Süd-
seestämme bemerkbar macht, ist die äußerliche sloische
Ruhe und Gleichgültigkeit, die er gerade in Fällen,
wo es dem Europäer fast unmöglich wird, die Vor-
gänge seines Innern in seinem Gesichtsausdrucke zu
verheimlichen, an den Tag legt. Ich denke hier
besonders an. Beleidigungen und grobe Wahrheiten,
die ihm gesagt werden, oder an andere Vorfälle, die
seinen Unwillen erregen, seinen Zorn in Aufwallung
bringen, oder seine Leidenschaften reizen können.
Die Beherrschung seiner Gefühlsregungen und seines
Temperaments ist natürlich nur äußerlich; denn sein
innerer Mensch bäumt sich bei solchen Gelegenheiten
auch auf und knirscht; er schämt sich auch und brütet
auf Rache und Vergeltung. Wenn er sich jedoch