8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 13
stimmung die formelle Kraft eines einfachen Gesetzes beigelegt werden
durch die Anordnung, daß sie im gewöhnlichen Wege der Gesetzge-
bung abgeändert werden kann, wie z. B. Art. 20, Abs. 2, Art. 60, Art. 68
der Reichsverfassung'').
II. Die materiellen Wirkungen der Gesetze bestimmen sich
nach deren Inhalt und können daher ebenso verschieden sein wie
diese. Wenn ein Gesetz eine Rechtsvorschrift enthält, so hat es die
Bedeutung, welche dem Rechte überhaupt zukommt, nämlich die
durch das gesellige Zusammenleben derMenschen
gebotenen Schranken und Grenzen der natürlichen
Handlungsfreiheit des Einzelnen zu bestimmen. Das
Gesetz kann diese Handlungsfreiheit in einem gewissen Umfange an-
erkennen, also eine Ermächtigung oder Erlaubnis enthalten, oder es
kann sie in einem gewissen Umfange aufheben, sei es durch ein Ge-
bot oder sei es durch ein Verbot, und es kann endlich an die Ver-
letzung dieser Anordnungen Rechtsnachteile knüpfen. Legis virtus
haec est: imperare, vetare, permittere, punire, sagt Modestinus?).
Ergibt sich schon aus diesem verschiedenen Inhalt eine große
Mannigfaltigkeit der Wirkungen, so wird die letztere noch dadurch
gesteigert, daß die in dem Gesetz enthaltene Anordnung bald an die
Einzelnen, bald an die Behörden und Organe der Staatsgewalt selbst
gerichtet sein kann. Dies gilt auch von der Gesetzgebung auf dem
Gebiete des Zivilrechts, indem dadurch den Gerichten Befehle erteilt
werden, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfange sie
den privatrechtlichen Ansprüchen den rechtlichen Schutz gewähren
sollen. Sehr zahlreiche Gesetze regeln nur die eigene Tätigkeit des
Staates, seine Verfassung, die Zusammensetzung, Geschäfte und Ge-
schäftsformen der Behörden, die wirtschaftliche Ordnung des Staats-
wesens, den Betrieb der Staatsanstalten usw. Solche Gesetze berühren
den Untertan des Staates unmittelbar gar nicht und sind auf ihn und
seine individuellen Rechtsbeziehungen unanwendbar; er wird von den
Wirkungen dieser Gesetze nur dadurch mitbetroffen, daß er in dem
1) Die staatsrechtliche Lehre von dem Verhältnis der Verfassungsgesetze zu ein-
fachen Gesetzen. und von der rechtlichen Bedeutung materiell verfassungswidriger
Gesetze leidet an erheblichen und zahlreichen Unklarheiten, weil man den Gegensatz
formeller und materieller Gesetzeskraft, der gerade für die Lösung dieses Problems
von maßgebender Bedeutung ist, nicht genügend gewürdigt hat. Statt dessen hat
man den Verfassungssätzen eine „höhere Auktorität“, „eine größere Intensivität des
staatlichen Willens“, eine „besondere Unverbrüchlichkeit* u. dgl. zugeschrieben, wo-
durch man in Widerspruch mit der Behauptung kommt, das das Gesetz, auch das
einfache, die unmittelbare und höchste Willensäußerung des Staates sei. Vgl. oben
S. 39 und Jellinek S. 248fg. Eine abweichende namentlich auf das bayrische
Recht gestützte Behandlung dieser Lehre gibt jetzt Dyroffa.a.0. S.909ff. Gegen
das hier in Bezug genommene Urteil des vormaligen Oberappellationsgerichts zu
Lübeck hat sich bereits das Reichsgericht (Entsch. Bd. 9, S. 235) ausgesprochen.
2) L. 7 Dig. de Legibus ], 3.