Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze. 75 
fenden Kategorie von Rechtsgeschäften, unter welche sich der Inhalt 
des Gesetzes subsumieren läßt, gelten. Daneben aber und völlig 
unberührt hiervon besteht die formelle Gesetzeskraft einer 
solchen Willenserklärung in der im Vorstehenden entwickelten Be- 
deutung. 
Manche Gesetze, welche weder eine Rechtsnorm noch ein Rechts- 
geschäft zum Inhalt haben, sind ohne alle materielle Wir- 
kung; dahin gehören insbesondere die zahlreichen Gesetzesparagra- 
phen, welche politische, juristische, soziale oder ethische Ansichten 
zum Ausdruck bringen, Ankündigungen, daß eine gewisse Materie be- 
sonders geregelt werden wird, oder daß Anordnungen irgend welcher 
Art vorbehalten werden, Konstatierungen von Tatsachen usw. (Siehe 
oben S. 62 fg.) 
III. Aus dem Begriff des Gesetzes folgt, daß im Prinzip dem Ge- 
wohnbheitsrecht derogatische Kraft nicht zukommt!). So lange 
der Staat seinen Befehl, daß ein gewisser Rechtssatz gelten soll, auf- 
recht erhält, können Untertanen und Behörden diesen Befehl nicht 
unbeachtet lassen und noch weniger ihn durch Nichtbefolgung auf- 
heben. Insbesondere darf der vom Staat bestellte Richter den staat- 
lichen Rechtsschutz nicht in anderer Weise und nach anderen 
Grundsätzen handhaben, als ihm durch die Gesetze des Staates vor- 
geschrieben ist. 
Allein das Gesetz kann unanwendbar werden, wenn die Tatbe- 
stände, die es regeln will, nicht mehr existieren. Der Wille, den der 
Staat in seinem Gesetze ausspricht, hat in vielen Fällen Lebensver- 
hältnisse, Einrichtungen und wirtschaftliche Zustände zur selbstver- 
ständlichen und deshalb stillschweigenden Voraussetzung, so 
daß bei dem Wegfallen dieser Voraussetzung auch der im Gesetz aus- 
gesprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Gesetze enthaltenen Be- 
1) Für das Handelsrecht erkennt auch Thöl, Handelsrecht (5. Aufl.) I, $ 22, 
S. 77 dies an und zwar nicht wegen Art. 1 des alten Handelsgesetzbuchs, sondern 
wegenArt.2der Reichsverfassung, demzufolge „es kein den Reichsge- 
setzen widerstreitendes Recht irgend einer Art gibt“. Vgl. jedoch Eiselea.a. 0. 
S. 264 ff., 301 ff.; Jellinek S. 334fg. Eine eingehendere Erörterung des Problems 
über das Verhältnis des gesetzlichen Rechts zum Gewohnheitsrecht muß ich mir an 
dieser Stelle versagen; ich beschränke mich auf die Bemerkung, daß das Gesetz eine 
Betätigung der staatlichen Herrschaft ist, der gegenüber die „nichtorganisierte 
Rechtsgemeinschaft“ nicht befugt ist, im Wege der Gewohnheit einen entgegenge- 
setzten Willen zur rechtlichen Anerkennung zu bringen. Gibt es dem Staatsgesetz 
gegenüber kein Recht auf Ungehorsam, so kann es auch kein Recht auf gewohnheits- 
mäßigen Ungehorsam geben. Seidler, Zur Lehre vom Gewohnheitsrecht, Stutt- 
gart 1898, S. 27 erklärt das derogatorische Gewohnheitsrecht als einen „Rechtsbruch“, 
als eine „Revolution milder Form im kleinen Rahmen der Gestaltung einzelner 
Rechtsätze“. Gibt es aber ein Recht zum Rechtsbruch und zur Revolution? Damit 
kann man doch die derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechts nicht rechtlich be- 
gründen. Uebereinstimmend mit meiner Ansicht Fleiner, Instit. des Verw.R. 
S. 76 fg.
	        
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