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4. Heimath= Wesen.
Ueber die Auslegung und Anwendung der §§. 11 Alinea 3, 23 Alinea 3 des Reichsgesetzes vom 6. Juni
1870, betreffend die Berechnung der Erwerbs= resp. Verlustfrist für Gesinde ꝛc. spricht sich ein Erkenntniß
des Bundesamtes vom 18. März d. J. in Sachen Fahrenstedt contra Nübel, dessen Motive zugleich den
Thatbestand des Falles enthalten, folgendermaßen aus:
Gründe.
Die Beschaffung von Kleidungsstücken für den am 13. Oktober 1874 in die Idioten-
Anstalt vor Schleswig ausgenommenen Knaben Hans Heinrich O., einen Sohn des Schuhmachers
Jacob O. zu Neuberend, früher in Stolk, hat dem Kläger einen Aufwand von 28 Thlr. 23 Sgr.
3 Pf. verursacht, dessen Nothwendigkeit nicht bestritten ist.
Kläger beansprucht Ersatz dieses Aufwandes von dem Verklagten, in dessen Bezirk und
zwar in Stolk Jacob O. vom Mai 1872 bis Mai 1874 gewohnt haben soll, während Ver-
klagter unter Beweis stellt, daß O. am 8. Mai 1872 in Stolk angezogen sei und schon am
26. April 1874 den Bezirk verlassen habe.
Nach der vom Kläger beigebrachten Vernehmlassung des Jacob O. hat derselbe in Stolk
vom 1. Mai 1872 bis 29. April 1874 gewohnt. Nachträglich ist von demselben in jetziger
Instanz bezeugt worden, daß er in Stolk eine Miethwohnung inne gehabt habe.
Das erste Erkenntniß stellt fest, daß der übliche Umzugstermin für „Heuersleute“ auf
dem Lande der 1. Mai sei, berechnet, daß nach der eigenen Darstellung des Verklagten weder
die Verspätung des Anzuges, noch die Antizipation des Abzuges einen siebentägigen Zeitraum
überschritten habe, und gelangt so, unter Bezugnahme auf die §§. 11., 23. des Reichsgesetzes
vom 6. Juni 1870 zu dem Resultate, daß O., auch wenn seine Anwesenheit in Stolk faktisch
von kürzerer als zweijähriger Dauer gewesen sei, dennoch einen Unterstützungswohnsitz im Be-
zirk des Verklagten begründet habe. Darauf stützt sich die Verurtheilung desselben nach dem
Klagantrage.
Die Berufung des Verklagten ist nicht begründet.
Die von den Parteien, wie vom ersten Richter stillschweigend vorausgesetzte Anwend-
barkeit der Bestimmung in §. 11, Absatz 3 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870, auf
Wohnungsmiether ist nicht unzweifelhaft. In den Motiven des dem Reichstage vorgelegten
Gesetzentwurfs wird die Bestimmung hauptsächlich damit begründet, daß es gelte, die Entschei-
dung der überaus zahlreichen Streitigkeiten zu vereinfachen, welche die Armenpflege der
dienenden und arbeitenden Klasse verursache. Dadurch gewinnt die Wahl des Ausdruckes
„Miethsleute“ statt Miether scheinbar eine Bedeutung, welche der Subsumtion sämmtlicher
Inhaber von Miethwohnungen ungünstig ist. Jedoch werden andererseits unter den Kategorieen
des §. 11 auch die Pächter, also Personen aufgeführt, welche nicht gleich dem Gesinde, den
Arbeitsleuten und Wirthschaftsbeamten ihre Dienste vermiethen, so daß es nicht wohl möglich
ist, unter dem zusammenfassenden Ausdrucke „oder andere Miethsleute“ nur Personen der arbei-
tenden und dienenden Klasse, welche ihre Dienste vermiethen, zu verstehen. Es kommt hinzu,
daß die Bestimmung in §. 11 des Reichsgesetzes augenscheinlich der gleichartigen Bestimmung in
§. 64 der schleswig-holsteinschen Armenordnung vom 29. Dezember 1841 nachgebildet ist, und
daß in Schleswig-Holstein nach einer von der Heimathsdeputation zu Schleswig ertheilten Aus-
kunft der Sprachgebrauch unter „Miethsleute“ Miether von Wohnungen jeder Art versteht.