Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. Anf.-—4.) 145
Kaiser Wilhelm verneigte sich, und erwiderte:
„Ich trinke auf das Wohl der österreichisch-ungarischen Armee, Unsere
Kameraden von der österreichisch-ungarischen Armee, sie leben hoch, nochmals
hoch, dreimal hoch!“
Am 4. Oktober früh: Jagd in Lainz. Dann Dejeuner in
Schönbrunn. Verabschiedung von der Kaiserin. Abfahrt beider
Kaiser zu den Jagden nach Mürzsteg in Steiermark. Hier ver-
bleibt Kaiser Wilhelm bis zum 10. Oktober, um dann die Weiterreise
nach Italien anzutreten. Der Kronprinz Rudolf von Österreich
begibt sich auf eine Bärenjagd nach Ungarn mit dem Prinzen von
Wales, der zufällig in dieser Zeit in Wien weilte. — Graf Herbert
Bismarck benutzt die Zwischenzeit, um Ministerpräsident Tisza in
Budapest einen Besuch zu machen, dem vom Kaiser der Schwarze
Adlerorden verliehen worden ist.
Anfang Oktober. (Hofprediger Stöcker über den Fall
Harnack.) Die vom Hofprediger Stöcker herausgegebene „Deutsche
Evangelische Kirchenzeitung“ widmet der Berufung Professor Harnacks
einen Artikel, in welchem es u. a. heißt: „Das Unerwartete ist ge-
schehen; entgegen dem Urteil der obersten Kirchenbehörden hat der
Kultusminister an dem Mann seiner Wahl festgehalten.
„Wenn der Minister für sich allein zu handeln hätte, würde seine
Handlungsweise dadurch erklärt und entschuldigt werden können, daß die
positive Theologie bisher versäumt hat, Harnacks Theologie gründlich zu be-
leuchten und zu widerlegen. Aber sein Ratgeber mußte die Sache kennen,
muß wissen, daß mit Harnack gerade bei seiner geistigen Bedeutung die theo-
logische Fakultät Berlins verritschelt. Verritscheln ist für uns ein ähnlicher
Vorgang, als wenn ein blühendes Tal vergletschert.
Jeder lebendige Christ, der bewußt an dem Geschick der Kirche teil-
nimmt, muß jetzt Stellung nehmen. “ wir tun es mit aller Aufrichtig-
keit, welche die bedrohte Lage der Kirche erheischt. Uns scheint, daß die
Frage der Mitwirkung der Kirche bei Berufung der Professoren damit in
ein Stadium akuter Verschlimmerung getreten ist. Die obersten Instanzen
der Kirche haben an der richtigen Ernennung der Professoren ein viel grö-
ßeres Interesse, als die Regierung oder die Fakultät oder ein einzelner Rat.
— So wie der Fall Harnack sich gestaltet hat, bedeutet er die völlige Un-
selbständigkeit der organisierten Kirche in der Erziehung ihrer Diener und
die völlige Willkür der Staatsbehörden. Gegenüber einer beinahe uneinge-
schränkten Freiheit des Katholizismus muß ein solcher Zustand zum Ruin
der evangelischen Kirche führen und den Widerwillen aller selbständig denken-
den Protestanten hervorrufen.“
4. Oktober. (Graf Douglas über Kaiser Wilhelm.)
Der freikonservative Graf Douglas, bekannt durch persönliche Be-
ziehungen zum Kaiser, hält in einer Wählerversammlung in Aschers-
leben eine Rede, in der er über den Kaiser u. a. sagt:
„Der Kaiser kenne keine anderen Ziele, als die Größe Deutschlands
Europ. Geschichtskalender. XXIX. Bd. 10