166 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 1. Hälfte.)
Dreiklassenwahlsystem sich erst gestalten, wenn das einheitliche politische In-
teresse wieder erstarkt genug ist, um die Sonderbestrebungen niederzuhalten,
wenn die Wahlen wieder der Betätigung der freien Überzeugung Raum
gewähren, oder der politische Unabhängigkeitssinn des Bürgertums sich stärker
erweist, als alle Versuche zur Unterdrückung desselben, kurzum, wenn Deutsch-
land wieder beginnt, aus einem unfreien Lande ein freies Land zu werden.
Man soll die menschlichen Dinge nicht beweinen und nicht belachen,
sondern zu verstehen trachten. Dies gilt auch von den Ursachen der Wahl-
niederlagen. Gewiß erscheint auch die Organisation und Leitung der Partei
einer steten Verbesserung fähig, aber alles, was gewisse Berliner Blätter jetzt
dem Programm, der Leitung und Organisation der freisinnigen Partei als
Ursache der Wahlniederlage zur Last legen möchten, ist eitel Gewäsch, nicht
wert des Druckpapiers, auf dem es verbreitet wird.“
Die „Nationalliberale Korresp.“ bemerkt zu dieser Polemik:
„Es ist kindisch, die fortgesetzten, zu den verschiedensten Zeiten
und unter verschiedenen Wahlsystemen erlittenen Niederlagen auf äußere Um-
stände und Nebensachen zurückführen zu wollen. Nein, die Partei hat, indem
sie sich in Widerspruch mit fast jeder Forderung des Volkes setzte, fortwäh-
rend die Gefühle der weitesten Kreise beleidigte und statt jedes gesunden zeit-
gemäßen Fortschrittes nur noch an altem, schalem Kram festhielt, jeden Boden
im Volke verloren. Fortschrittliche Blätter selbst gestehen ein, daß da nur
eine gründliche Reform des Programms, der Taktik, der Leitung und der
ganzen Art der Behandlung der politischen Dinge noch helfen konnte. Ist
aber die Partei nicht schon viel zu verknöchert und erstarrt, um noch zu
einer Reform aus sich selbst heraus fähig zu sein? Die an der Spitze und
im parlamentarischen Leben stehenden Persönlichkeiten sind es ohne Zweifel.
Sie find teils, wie Richter und Rickert, immer verbitterter, leidenschaftlicher
und jeder Einrede unzugänglicher geworden, teils sind sie, wie Stauffenberg,
Forckenbeck, Hänel, verstimmt und mutlos aus dem politischen Leben bereits
so gut wie ausgeschieden. Die alten Führer sind nicht mehr fähig, der Partei
noch einmal frisches Leben einzuflößen. Eine Wiedergeburt und ein Auf-
schwung müßte aus dem Volke, aus der Wählerschaft selbst hervorgehen.
Aber das fortschrittliche „Volk“ ist eben auch dünn geworden; es hat mehr
und mehr dieser Partei den Rücken gewandt, die ihm nichts mehr bot und
in jedem Stück die Stimmung der Nation verkannte und verachtete.“
Etwas später macht die „Freisinnige Zeitung“ folgende Eröffnung:
„Die freisinnige Parteileitung hat mehrmals auf den mitunter in Ber-
liner Blättern aufflackernden Reformeifer von Redakteuren in Parteiangelegen-
heiten eine ernsthafte Probe gemacht. Als vor einiger Zeit unablässig der
sozialpolitische Teil des freisinnigen Parteiprogramms bemängelt wurde, setzte
man eine freie Kommission nieder, um eine andere Redaktion dieses Programms
in Vorschlag zu bringen. Zu dieser Kommission wurden auch gerade die
Redakteure von Blättern eingeladen, welche fort und fort kritische Betrach-
tungen anstellten. Aber die Kommission ging ergebnislos auseinander, weil
gerade die betreffenden Redakteure nicht im stande waren, irgendwelche Vor-
schläge zur Abänderung zu prazisieren. Um den unablässigen Klagen ein-
zelner Berliner Redakteure zu begegnen, daß die Parteileitung auf die Or-
gane der Presse nicht genügend Rucksicht nehme, setzte es der Abg. Eugen
Richter im Jahre 1878 durch, daß zum damaligen Parteitag der Fortschritts-
partei die Redakteure fortschrittlicher Blätter als solche Zutritt erhielten.
Es erschienen denn auch einzelne Berliner Redakteure, aber ihre Anträge
und Reden verrieten sowenig Fühlung mit der Gesamtpartei, daß bei der
neuen Aufstellung einer Parteiorganisation für die Fusion einstimmig be-