Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Die Österreichisch-Ungarische Monarchie. (März 8. bezw. 21.) 237 
in seiner Beratung die Notwendigkeit, daß die Erziehung und Bildung der 
Jugend in der Volksschule gleichermaßen den religiösen, nationalen und 
zeitgemäßen Anforderungen entspreche. Aus vielen ernsten Kundgebungen ist 
es überhaupt bekannt, daß die Geistlichkeit nicht im Sinne hat, das Schul- 
wesen dem Einflusse der geistlichen Ämter in ähnlichem Maße untergeordnet 
zu wissen, wie dies ehemals der Fall war; noch weniger könnte darauf die 
Aktion der tschechischen Abgeordneten abzielen. Die Regierung hat bisher 
dem Drängen des Reichsrates und Landtages auf Vorlage eines Gesetzent- 
wurfes einer neuen Schuleinrichtung, welcher im Geiste der Verfassung den 
Landtagen das zuweisen würde, was ihnen gehört, nicht entsprochen, und 
bei den jetzigen Verhältnissen läßt sich nicht absehen, wann sie sich zu einem 
solchen Schritte entschließen würde. Der Antrag Liechtenstein, welcher in 
vollem Maße die Länder-Autonomie berücksichtigt, gibt trotz der unleugbaren 
Mängel in seinen einzelnen Bestimmungen eine passende Gelegenheit, daß 
aus der Initiative des Abgeordnetenhauses ein Gesetz zu stande komme, 
welches allen oben erwähnten Anforderungen entspräche. Aus diesem Grunde 
wurde vor Allem die Opportunität und Notwendigkeit anerkannt, daß der 
Klub für die Zuweisung dieses Antrages an die Schulkommission stimme. 
Ebenso wurde beschlossen, daß auch der Antrag Herolds trotz der Einwen- 
dung, welche gegen einzelne Teile desselben vorgebracht werden können, der- 
selben Kommision zugewiesen werde.“ Das Kommuniqué betont dann, daß 
diese Anträge seit der Teilnahme der tschechischen Abgeordneten an den Ar- 
beiten des Reichsrates zu erstenmale die Gelegenheit bieten, daß auf dem 
Gebiete der Schule ein Gesetz zu stande komme, welches die Selbstbestim- 
mung der Länder von der zentralistischen Richtung dissolvieren könnte, die 
von früheren Regierungen verfolgt wurde. Aus den parlamentarischen Ver- 
hältnissen ergebe sich ferner, daß dieses Ziel nur durch Zuweisung des An- 
trages Liechtenstein an die Schulkommission zu erreichen ist, weil durch dessen 
Verwerfung nicht allein das Schicksal des Antrages Herolds und Genossen, 
sondern auch gleichzeitig jedes weiteren Antrages, der im Hause mit ähnlicher 
Tendenz gegenwärtig oder in Zukunft gestellt werden könnte, entschieden 
würde. Es sei schließlich ein Gebot des parlamentarischen Anstandes, daß 
Anträge, die von ernsten Parteien, ja sogar aus dem Lager der politischen 
Gegner selbst gestellt werden, wenn auch die Majorität mit denselben nicht 
vollends übereinstimmt, wenigstens der Erwägung und Prüfung unterzogen 
werden. Eine derartige Erwägung und Prüfung werde jedoch umsomehr zur 
Pflicht, wenn der Antrag von politischen Bundesgenossen stammt. 
Diese Beschlüsse werden von den Jungtschechen durch eine 
heftige Erneuerung der Agitation gegen den Antrag Liechtenstein 
beantwortet. 
Der Prager Stadtrat beschließt eine im alttschechischen Sinne 
gehaltene Resolution (vgl. Febr. 19. bezw. 20.). Als diese der Stadt- 
verordnetenversammlung am 21. März zur Genehmigung unter- 
breitet und mit 52 gegen 24 angenommen wird, entsteht ein furcht- 
barer Tumult. 
Der Referent des Stadtrats wird in seiner Schlußrede fortgesetzt bei 
Hervorhebung der durch die Alttschechen gewonnenen Errungenschaften mit 
Hohngelächter von seiten der Jungtschechen und dazwischen geworfene Schimpf- 
worte unterbrochen. Namentlich nehmen die dichtbesetzten Galerien daran 
teil. Dasselbe wiederholt sich, als Bürgermeister Czerny bei der nament- 
lichen Abstimmung seine Stimme zu Gunsten der Resolution abgibt. Bei 
 
	        
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