Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtundzwanzigster Jahrgang. 1912. (53)

40 Des Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 17.) 
glauben durch Repressionen. Solche Richtungen heilt man nicht mit So- 
linger Klingen, sondern nur mit solonischer Weisheit. (Heiterkeit! Rufe: Au!! 
Ich halte es für unrecht, daß sich die Sozioldemokratie noch immer die 
Zeremonie erlaubt, gegen den Etat zu stimmen. Die Sozialdemokratie muß 
durch den Revisionismus hindurch, um sich wieder in der bürgerlichen  
Gesellschaft zurechtzufinden. Die Hoffnung der Gewaltpolitiker, daß die Sozial- 
demokratie ausspannen oder Buße tun werde, ist irrig, das gibt es nicht: 
Die Sozialdemokratie ist eine Entwicklung, eine phantastische Entwicklung 
mit einem phantastischen Programm. Es ist eine Ausgeburt phantastischer 
Bureaukratie, den Staat als Generalunternehmer aller Unternehmungen zu 
denken. Aber die Rückentwicklung in die bürgerliche Gesellschaft, die statt- 
finden wird und muß, wird eine sehr langwierige sein. Es ist die Auf- 
gabe, der bürgerlichen Parteien, die Sozialdemokratie von der Unerfüllbar- 
keit ihrer Forderungen zu überzeugen; es nützt nichts, daß man immer 
auf sie loshämmert, da macht man aus Eisen nur Stahl. Die liberalen 
Parteien scheinen ganz aus taktischen Gründen eine gewisse Fühlung mit 
der Sozialdemokratie genommen zu haben: es hieß: „Die Front gegen 
rechts!" Damit hat die radikale Partei Oberwasser bekommen,  denn sie 
überwindet Immer die weniger radikale. Die Liberalen verlieren damit 
den Boden, auf dem sie bisher segensreich im Interesse des Reiches gewirkt 
haben. Nicht rechts ist ihr gefährlicherer Gegner, ihr gefährlichster Gegner 
sitzt links. Der liberale Gedanke in Deutichland hat an Schwerkraft ver- 
loren, weil sie an liberalen Forderungen auf dem politischen Markte über- 
boten sind. (Große Unruhe 1.) 
17. Februar. Kiel.) Das Linienschiff „Ersatz Odin“ wird 
im Beisein des Kaisers von Prinzessin Therese von Bayern nach 
einer Rede des Prinzen Ludwig von Bayern auf den Namen „Prinz- 
regent Luitpold-“ getauft. 
Bei dem Festmahl hält der Kaiser eine Rede vom „Mosaikbild 
des Reiches“: Wer in seinem Leben sich mit Kunst beschäftig hat, kennt 
das  herrliche Material der Mosaik und lernt die wunderbaren Bilder, welche 
aus ihr geformt werden, schätzen und bewundern. Von ferne betrachtet, 
sieht er ein farbenprächtiges Gesamtbild vor sich, tritt er heran, so wird 
er gewahr, daß das Kunstwerk aus lauter einzelnen Steinchen zusammen- 
gesetzt ist, welche von verschiedener Form und Farbe individuell in sich 
gesteinige kleine Gebilde sind. So ist es mit unserem Reich, von ferne 
als mächtiges Ganzes wirkend, ist es zusammengesetzt aus einzelnen Stämmen, 
stolz auf ihre Eigenart und treu anhängend ihren angestammen Fürsten- 
häusern  deren buntfarbigen Kähnlein sie Jahrhunderte lang gefolgt sind. 
Festgeschart sind alle zum Schutze des deutschen Reichspaniers. 
17. Februar. (Reichstag.) Fortsetzung der ersten Beratung 
des Etats. 
  
  
Abg. Ledebour 'Sd.): Der Herr Reichskanzler war am ersten Tage 
der Staatsdebatte hier nicht anwesend, am zweiten Tage huschte er wie ein 
trübseliges Irrlicht auf fünf Minuten durch den Saal, am dritten Tage 
hielt er jene Buttpredigt, und heute ist er wieder nicht da, trotzdem er 
genau weiß, daß auf die heutigen Angriffe, die er gegen meine Partei  
geschleudert hat, sofort eine Antwort erfolgen wird. Unsere Forderungen an 
die Finanverwaltung gehen erheblich über den Grundatz: „Keine Ausgaben 
ohne Deckung“ hinaus. Wir verlangen Gesundung der Finanzen durch 
ganz erhebliche Reduzierung der Militär-- und Flolttenausgaben; wir for-
	        
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