Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

106 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
hochverdiente Zedlitz den Abschied erhielt und der geistlose Heuchler Wöllner 
mit seinen Religions= und Censuredicten die freien Gedanken des Jahr- 
hunderts niederzuhalten versuchte. Mit Mühe gelang es die Verkündigung 
des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerstand der höfischen Frömmler 
durchzusetzen. Der gesunde Kern des Beamtenthums blieb freilich unzer- 
störbar, aber der schwerfällige Gang der Verwaltung konnte dem rascheren 
Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr folgen; die erschlaffte Zucht 
verrieth sich in manchen Unterschleifen und Bestechungen, die unter den 
beiden letzten Königen unerhört gewesen. 
Und nun, in ruhmlosen Tagen, zeigte sich doch, auf wie schwachen 
Füßen noch jene Staatsgesinnung stand, welche Friedrich in seinem Volke 
erweckt hatte. Der Nationalstolz der Preußen war wesentlich Verehrung 
für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin 
lag für die Masse der Ostpreußen und Schlesier ganz aus der Welt; in 
Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der stillvergnügte Particularismus 
der Landschaften den Mittelpunkt seiner Interessen. Tiefe, verständniß- 
volle Theilnahme an den Geschicken des Staates war nur in engen 
Kreisen lebendig. Um so lauter lärmte die anmaßende Tadelsucht. Der 
politische Trieb, der in dem Beamtenstaate keine Bühne für gemein- 
nütziges Wirken fand, warf sich auf die Literatur. Eine Fluth von Schmäh- 
schriften überschwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläubigen 
Lesern ungeheuerliche Märchen von der asiatischen Schwelgerei Saul's 
des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unsauberes Treiben, hoch- 
gefährlich, weil in der absoluten Monarchie jeder Tadel seine Pfeile 
gradeswegs gegen die Person des Königs richten mußte, gefährlicher noch 
weil aus diesem Schwalle gehässiger Vorwürfe nirgends ein fruchtbarer 
Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen 
des Gemeinwesens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die Welt 
von den geistsprühenden Gesprächen der Tafelrunde von Sanssouci, und 
jetzt trieb nahebei in Charlottenburg und im Marmorpalais am Heiligen 
See der Kammerdiener Rietz mit der Gräfin Lichtenau sein plattes Wesen, 
und der Nachfolger Friedrich's bestaunte andachtsvoll die Geistererschei- 
nungen im Zauberspiegel des Obersten Bischoffwerder. 
Friedrich's letztes Werk, der deutsche Fürstenbund, zerbrach dem Erben 
unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzensgesin- 
nungen seiner kleinen Bundesgenossen, über die Unzuverlässigkeit der 
Freundschaft von Hannover und Sachsen nie im Zweifel gewesen, man 
kannte seinen verächtlichen Ausspruch „mit diesen Herren ist nichts zu 
machen“, aber nicht umsonst hatte er den Fürstenbund als ein Vermächtniß 
an seine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche Gunst der 
Lage währte, so lange die Angst vor Oesterreichs Uebergriffen den hohen 
Adel Deutschlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte ein starker 
Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutschen Fürstenstandes
	        
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