106 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
hochverdiente Zedlitz den Abschied erhielt und der geistlose Heuchler Wöllner
mit seinen Religions= und Censuredicten die freien Gedanken des Jahr-
hunderts niederzuhalten versuchte. Mit Mühe gelang es die Verkündigung
des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerstand der höfischen Frömmler
durchzusetzen. Der gesunde Kern des Beamtenthums blieb freilich unzer-
störbar, aber der schwerfällige Gang der Verwaltung konnte dem rascheren
Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr folgen; die erschlaffte Zucht
verrieth sich in manchen Unterschleifen und Bestechungen, die unter den
beiden letzten Königen unerhört gewesen.
Und nun, in ruhmlosen Tagen, zeigte sich doch, auf wie schwachen
Füßen noch jene Staatsgesinnung stand, welche Friedrich in seinem Volke
erweckt hatte. Der Nationalstolz der Preußen war wesentlich Verehrung
für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin
lag für die Masse der Ostpreußen und Schlesier ganz aus der Welt; in
Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der stillvergnügte Particularismus
der Landschaften den Mittelpunkt seiner Interessen. Tiefe, verständniß-
volle Theilnahme an den Geschicken des Staates war nur in engen
Kreisen lebendig. Um so lauter lärmte die anmaßende Tadelsucht. Der
politische Trieb, der in dem Beamtenstaate keine Bühne für gemein-
nütziges Wirken fand, warf sich auf die Literatur. Eine Fluth von Schmäh-
schriften überschwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläubigen
Lesern ungeheuerliche Märchen von der asiatischen Schwelgerei Saul's
des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unsauberes Treiben, hoch-
gefährlich, weil in der absoluten Monarchie jeder Tadel seine Pfeile
gradeswegs gegen die Person des Königs richten mußte, gefährlicher noch
weil aus diesem Schwalle gehässiger Vorwürfe nirgends ein fruchtbarer
Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen
des Gemeinwesens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die Welt
von den geistsprühenden Gesprächen der Tafelrunde von Sanssouci, und
jetzt trieb nahebei in Charlottenburg und im Marmorpalais am Heiligen
See der Kammerdiener Rietz mit der Gräfin Lichtenau sein plattes Wesen,
und der Nachfolger Friedrich's bestaunte andachtsvoll die Geistererschei-
nungen im Zauberspiegel des Obersten Bischoffwerder.
Friedrich's letztes Werk, der deutsche Fürstenbund, zerbrach dem Erben
unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzensgesin-
nungen seiner kleinen Bundesgenossen, über die Unzuverlässigkeit der
Freundschaft von Hannover und Sachsen nie im Zweifel gewesen, man
kannte seinen verächtlichen Ausspruch „mit diesen Herren ist nichts zu
machen“, aber nicht umsonst hatte er den Fürstenbund als ein Vermächtniß
an seine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche Gunst der
Lage währte, so lange die Angst vor Oesterreichs Uebergriffen den hohen
Adel Deutschlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte ein starker
Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutschen Fürstenstandes