136 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Reihen der Sensenmänner ritt. In Rußland dagegen flammte der alte
Haß der Byzantiner gegen die Lateiner, der Ostslaven gegen die West-
slaven drohend auf; wie ein Mann forderte das weite Czarenreich die
Vernichtung Polens zur Sühne für die erlittene Schmach. Nie war ein
Krieg dem russischen Volke heiliger. Es lag am Tage, in der blutigen
Woche von Warschau hatte Polens letzte Stunde geschlagen. Da war
es Preußens Pflicht, sogleich, noch ehe die russischen Heersäulen aus dem
entlegenen Innern des Reichs heranrücken konnten, selber den Aufstand
niederzuwerfen um nachher bei der unvermeidlichen letzten Theilung in
unangreifbarer Stellung das entscheidende Wort zu sprechen.
Der König erkannte was auf dem Spiele stand. Er ließ sein Heer
einrücken, schlug die Polen bei Rawka, eroberte Krakau und wendete sich
dann gegen Warschau, das mangelhaft gerüstet, von Parteikämpfen erfüllt,
einem Sturmangriffe der Preußen nicht gewachsen war. Aber jene un-
glückliche Bedachtsamkeit und Ueberfeinheit, welche den rheinischen Krieg
verdorben hatte, betrog den König auch um die Früchte seiner polnischen
Siege. Der ritterliche Fürst wollte Praga mit Sturm nehmen und dann,
wie sein Ahnherr der große Kurfürst, als Sieger in die polnische Haupt-
stadt einziehen. Da mahnte ihn Bischoffwerder, seine Kräfte zu schonen
für die Abrechnung mit Rußland; ein Agent Katharina's, der Prinz von
Nassau-Siegen, stimmte dem kleinmüthigen Rathe eifrig zu; man begann
eine regelmäßige Belagerung, die schon nach wenigen Tagen abgebrochen
wurde. Während das preußische Heer verstimmt und erbittert von War-
schau abzog, rückte Suworow mit der Hauptmacht Katharina's heran, der
geniale Barbar, in dem die wilde nationale Leidenschaft der Moskowiter
Fleisch und Blut gewann: dem weißen Czaren und der orthodoxen Kirche
blind ergeben wie ein großrussischer Bauer, und doch ein Meister in der
Kriegskunst der Abendländer, ein großer Feldherr, zum Befehlen geboren,
gewohnt das Ungeheure von dem Todesmuthe seiner Soldaten zu fordern,
gewohnt zu handeln nach seinem Lieblingsworte: die Kugel ist eine Närrin,
das Bajonett ein ganzer Mann. Er vollführte was die preußischen Feld-
herren versäumt, schlug das Heer Kosciuszko's auf's Haupt, erstürmte Praga
nach mörderischem Kampfe. Warschau lag zu den Füßen Katharina's,
ihre Truppen behaupteten die beherrschende Stellung zwischen Bug und
Weichsel. Nicht Preußen, sondern Rußland hatte den Aufstand gebändigt
und prahlend verkündete der Petersburger Hof: „Polen ist gänzlich unter-
worfen und erobert durch die Waffen der Keaiserin.“
Die Unterlassungssünden der preußischen Heeresleitung bestraften sich
sofort, als die drei Ostmächte zu Petersburg über die letzte Theilung ver-
handelten. Preußen verlangte die Weichsellinie mit Warschau, Sandomierz
und Krakau. Da Oesterreich, das zur Dämpfung des Aufstandes sehr
wenig gethan, diese letzteren zwei Bezirke für sich begehrte, gab General
Tauentzien eine Antwort, welche schon den gänzlichen Zerfall der Coalition