Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

146 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
schwollen die Heere aller Nachbarreiche zu ungeheuren Massen an, die 
Weltstellung des Staates ward durch die Verschiebung der Grenzen im 
Osten und im Westen schwieriger denn je. 
Als der zweite Friedrich Wilhelm die Augen schloß, war Preußens 
Macht im Innern wie nach Außen schwächer denn beim Tode seines 
Oheims. Aus dem festgefügten deutschen Staate, dem ein genialer Wille 
das Ungeheure zumuthen konnte, war ein schwerfälliges deutsch-lavisches 
Mischreich geworden, das weder die Heeresmacht noch die Geldmittel besaß 
um sein weites Gebiet zu vertheidigen und langen Friedens bedurfte um 
nur wieder zu innerer Einheit zu gelangen. Die großen Strafgerichte 
der Geschichte sind schwachen Gemüthern unheimlich, denn der Vollstrecker 
des gerechten Urtheils ist fast immer selbst Partei, selbst schuldbelastet. 
So ward die durch gehäufte Frevel verdiente Zerstörung des polnischen 
Staates jetzt von unreinen Händen vollzogen. Die Schuld, die an der 
nothwendigen That haftete, wurde an Rußland bestraft durch eine lange 
Reihe schwerer innerer Kämpfe, an Oesterreich durch die Mißerfolge der 
französischen Kriege, doch von keiner der drei Theilungsmächte ist sie 
so schwer gebüßt worden wie von Preußen; denn keine von ihnen war 
durch die Eroberung reinpolnischen Landes so weit abgeirrt von den Bahnen 
ihrer natürlichen Politik, wie dieser deutsche Staat. Durch den Klein- 
muth von Basel wie durch das Ränkespiel von Grodno hatte Preußen 
an seinem Theile dazu geholfen, daß nunmehr jene ruchlose Ländergier 
in Europa zur Alleinherrschaft gelangte, die kein Recht anerkannte als 
das Recht des Starken und in Napoleon ihren größten Vertreter fand. 
Deutschland aber war, da alle seine Staaten sich dem unabweisbaren 
Werke der Reform versagten, wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit 
Gustav Adolf's: wie damals die Parität der Kirchen, so konnte jetzt die 
Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der Theokratie nur 
noch durch das Eingreifen ausländischer Gewalten erreicht werden. — 
  
So lagen die Dinge, als König Friedrich Wilhelm III. den Thron 
bestieg. Ernst und pflichtgetreu, fromm und rechtschaffen, gerecht und 
wahrhaft, in Art und Unart ein deutscher Mann, besaß er alle Tugenden, 
die den guten und reinen Menschen bilden, und schien wie geschaffen, 
einen wohlgeordneten Mittelstaat in Ehren durch eine ruhige Zeit hin- 
durchzuführen; diesem tiefen Gemüthe war es ein Bedürfniß von seinen 
Unterthanen geliebt zu werden. Sein Geist umspannte nur ein enges 
Gebiet; doch über alle Fragen, die in seinen Gesichtskreis fielen, urtheilte 
er klar und richtig, nach tiefer, gründlicher Erwägung, und bewährte 
immer ein angeborenes glückliches Verständniß für die Mächte der Wirk- 
lichkeit. Seine Erziehung hatte Alles verabsäumt, was diese edle, aber 
schwunglose und im Grunde unpolitische Natur zu der Freiheit königlicher
	        
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