Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Das Kaiserthum. 9 
Pufendorf sah das Reich „sicher wie einen rollenden Stein“ der Um— 
gestaltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche 
Deutschland empfand dunkel, wie sinnlos die alten Formen in der neuen 
Zeit geworden. Die Religionsfriedensschlüsse gaben sich selber nur für 
Waffenstillstände, vertrösteten die Nation auf bessere Zeiten, da „durch 
Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubenssachen zu Stande kommen 
wird". Der Westphälische Friede beauftragte den nächsten Reichstag, 
durch eine umfassende Verfassungsrevision die neu errungene Macht der 
Reichsstände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiser- 
krone. Doch das Haus Oesterreich verhinderte auch diesmal den Ver- 
such der Reform. Die Reichsversammlung von 1654 ging unverrichteter 
Dinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb 
Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne seine wichtigste Aufgabe jemals 
in Angriff zu nehmen, so blieb der deutsche Staat in Wahrheit ver- 
fassungslos. In seinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerstücke 
dreier grundverschiedener Staatsformen wirr und unverbunden neben 
einander: die schattenhaften Ueberbleibsel der alten monarchischen Einheit, 
die verkümmerten Anfänge einer neuen staatenbündischen Ordnung, end- 
lich, lebendiger als Beide, der Particularismus der territorialen Staats- 
gewalten. 
Das Kaiserthum hielt in allem Wandel der Zeit die alten An- 
sprüche monarchischer Machtvollkommenheit fest und gestattete niemals, 
daß ein Reichsgesetz ihm den Umfang seiner Rechte fest begrenzte. Der 
kaiserliche Oberlehnsherr empfing noch immer sitzend, mit bedecktem Haupte 
die Huldigung seiner knieenden Unterthanen, der Reichsstände; er übte, 
soweit sein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch seinen Reichshofrath, 
als sei er wirklich noch der höchste Richter über Eigen und Lehen und 
über jeglichen Mannes Leib, wie einst in den Tagen des Sachsenspiegels. 
Noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiserschwert nach 
allen vier Winden, weil die weite Christenheit dem Doppeladler gehorche; 
noch sprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernst von den Lehen des 
Reichs, die auf den Felsterrassen der Riviera von Genua und tief in 
Toscana hinein lagen; noch bestanden die drei Reichskanzlerämter für 
Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Bisanz und so viele andere, 
längst den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den Reichs- 
tagen zur Abstimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt als 
Reichsvicar in Wälschland, und Niemand wußte zu sagen, wo des hei- 
ligen Reiches Grenzpfähle standen. Dem Dichterauge des jungen Goethe 
wurde in dem altfränkischen Schaugepränge der Kaiserkrönung die farben- 
reiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem 
nüchternen Sinne des Weltmannes zuschaute, gleich dem Ritter Lang, 
dem erschien dies Kaiserthum der verblaßten Erinnerungen und der gren- 
zenlosen Ansprüche als ein fratzenhafter Mummenschanz, ebenso lächerlich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.