Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

206 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
zu kommen. Ihre Führer waren, obgleich sie hochmüthig lärmend auf 
das Recht des Genies zu trotzen liebten, mehr feingebildete Kenner als 
schöpferische Dichter, ihre Kunst mehr ein absichtliches Experimentiren als 
unbewußtes Schaffen; statt jener Goethischen „Verliebtheit in's Reale" 
sollte die Ironie, die Todfeindin aller Naivität; jetzt die echte poetische 
Stimmung sein. Der schöne Ausspruch: edle Naturen zahlen mit dem 
was sie sind — diente der anmaßlichen Unfruchtbarkeit zum Lotterbette. 
Spielende Willkür verwischte die Grenzen aller Kunstformen, verdarb die 
Keuschheit der Tragödie durch Operngesänge, führte die Zuschauer als 
Mitredende in die dramatische Handlung ein, brachte die unverständ- 
lichen Empfindungen entlegener Völker und Zeiten auf die Bühne, die 
doch stets im edlen Sinne zeitgemäß bleiben und nur darstellen soll was 
die Hörer mitfühlen. Die Sprache war nunmehr, nach Schiller's Worten, 
durch große Meister so weit gebildet, daß sie für den Schriftsteller dich- 
tete und dachte; das junge Geschlecht muthete ihr das Unmögliche zu, 
sang von klingenden Farben und duftenden Tönen. Die Schranken 
zwischen Poesie und Prosa stürzten ein, die Dichtung erging sich in Be- 
trachtungen über die Kunst, die Kritik in phantastischen Bildern. Die 
Kunst war Wissenschaft, die Wissenschaft Kunst; alle Offenbarungen des 
Seelenlebens der Menschheit, Glauben und Wissen, Sage und Dich- 
tung, Musik und bildende Künste entströmten dem einen Ocean der 
Poesie um wieder in ihn zurückzufließen. 
So gelangten die Romantiker, während sie beständig von volksthüm- 
licher Dichtung sprachen, zu einer phantastischen und überbildeten Welt- 
anschauung, die nur wenigen Eingeweihten, und auch diesen kaum, ver- 
ständlich war. Von ihrer Zuchtlosigkeit und zugleich von ihrem Unver- 
mögen gab Friedrich Schlegel's Lucinde ein trauriges Zeugniß: da schwelgte 
eine künstlich erhitzte Phantasie in „Dithyramben über die schönste Si- 
tuation“, ohne jemals sinnlich warm und anschaulich zu werden, es war 
wie das Frrereden eines trunkenen Pedanten. Auch die Philosophie 
wurde von dem Uebermuthe und der Unklarheit der Romantik ange- 
kränkelt. Sie war bisher von den weltbürgerlichen Einwirkungen, welche 
die übrige Literatur ergriffen, gar nicht berührt worden, sondern hatte 
sich eine selbständige Ideenwelt geschaffen, die dem Auslande ebenso un- 
faßbar blieb wie die Terminologie der deutschen Philosophen. Der Genius 
unserer Sprache, der zu geistvoller, vielsagender Unbestimmtheit neigt, 
kam den mystischen Neigungen der deutschen Natur nur zu bereitwillig 
entgegen; die romantische Schwärmerei mußte ihnen vollends verhäng- 
nißvoll werden. Wenn der junge Schelling, durch Goethe's Ideen ange- 
regt, sich vermaß die Natur zu verfolgen, wie sie sich in allem Lebendigen 
auseinandersetzt, so eröffnete er allerdings mit erstaunlicher Kühnheit dem 
philosophischen Denken ein völlig neues Gebiet; doch ihm fehlte gänzlich 
jene tiefe Bescheidenheit, welche Kant in seinen verwegensten Speculationen
	        
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