306 I. 3. Preußens Erhebung.
viel höher sei doch die sittliche Würde dessen, der in Liebe seinem Lande
lebe, und wie verkomme in weichlicher Empfindsamkeit der Sinn, der nur
an sich selber denke; wie viel Grund zur Liebe und Treue biete dieser
Staat, der einst den anderen Deutschen ein Muster gewesen und noch
immer eine Freistatt sei für jeglichen Glauben, ein Staat der Rechtlichkeit
und des ehrlichen Freimuths. Das Alles so einfach fromm, dem schlich-
testen Sinne verständlich, und doch so geistvoll, tief aus dem Borne der
neuen Cultur geschöpft; so glaubensinnig und doch so klug auf die poli-
tischen Nöthe des Augenblicks berechnet. Die praktische Theologie, die so
lange seitab von den geistigen Kämpfen der Zeit im Hintertreffen gestanden,
wagte sich wieder heraus auf die freien Höhen der deutschen Bildung, und
die getrösteten Hörer empfanden, daß das Christenthum in jedem Wandel
der Geschicke immer neu und lebendig, immer zeitgemäß zu wirken vermag.
Der ungeheure Umschwung der Meinungen, die gewaltsame Umkehr
der Zeit von selbstgenügsamer Bildung zum politischen Wollen zeigt sich
wohl in keiner Schrift jener Tage so anschaulich wie in Fichte's Abhand-
lung über Macchiavelli. Der Icarus unter den deutschen Idealisten, der
Verächter des Wirklichen feierte jetzt den härtesten aller Realpolitiker, weil
er in dem willensstarken Florentiner den Propheten seines Vaterlandes
erkannte. Während die Trommeln der französischen Garnison drunten
vor den Fenstern der Akademie erklangen, hielt Fichte dann seine Reden
an die deutsche Nation. Zerknirscht und erschüttert, im Gewissen gepackt
lauschte die Versammlung, wenn der stolze Mann mit den strafenden
Augen und dem aufgeworfenen Nacken schonungslos in's Gericht ging mit
der tief gesunkenen Zeit, da die Selbstsucht durch ihr Uebermaß sich selbst
vernichtet habe, und endlich den Hörern sein radicales Entweder — Oder
auf die Brust setzte: ein Volk, das sich nicht selbst mehr regieren kann,
ist schuldig seine Sprache aufzugeben. Darauf riß er die Gedemüthigten
wieder mit sich empor und schilderte ihnen die unverwüstliche Kraft und
Majestät des deutschen Wesens so groß, so kühn, so selbstbewußt, wie in
diesen zwei Jahrhunderten des Weltbürgerthums Niemand mehr zu
unserem Volke geredet hatte, aber auch mit der ganzen unklaren Ueber-
schwänglichkeit des neuen literarischen Nationalstolzes: die Deutschen allein
sind noch ursprüngliche Menschen, nicht in willkürlichen Satzungen erstorben,
das Volk der Ideen, des Charakters; wenn sie versinken, so versinkt das
ganze menschliche Geschlecht mit. Soll der Menschheit noch eine Hoff-
nung bleiben, so muß ein neues deutsches Geschlecht erzogen werden,
das in seinem Vaterlande den Träger und das Unterpfand der irdischen
Ewigkeit verehrt und dereinst den Kampf aufnimmt gegen den vernunft-
losen, hassenswürdigen Gedanken der Universalmonarchie.
Die Predigten Schleiermacher's erregten den Argwohn der französischen
Spione. Mit dem hochfliegenden Pathos dieses Redners, der die Erfül-
lung seiner Träume auf eine zukünftige Generation verschob, wußten die