Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

306 I. 3. Preußens Erhebung. 
viel höher sei doch die sittliche Würde dessen, der in Liebe seinem Lande 
lebe, und wie verkomme in weichlicher Empfindsamkeit der Sinn, der nur 
an sich selber denke; wie viel Grund zur Liebe und Treue biete dieser 
Staat, der einst den anderen Deutschen ein Muster gewesen und noch 
immer eine Freistatt sei für jeglichen Glauben, ein Staat der Rechtlichkeit 
und des ehrlichen Freimuths. Das Alles so einfach fromm, dem schlich- 
testen Sinne verständlich, und doch so geistvoll, tief aus dem Borne der 
neuen Cultur geschöpft; so glaubensinnig und doch so klug auf die poli- 
tischen Nöthe des Augenblicks berechnet. Die praktische Theologie, die so 
lange seitab von den geistigen Kämpfen der Zeit im Hintertreffen gestanden, 
wagte sich wieder heraus auf die freien Höhen der deutschen Bildung, und 
die getrösteten Hörer empfanden, daß das Christenthum in jedem Wandel 
der Geschicke immer neu und lebendig, immer zeitgemäß zu wirken vermag. 
Der ungeheure Umschwung der Meinungen, die gewaltsame Umkehr 
der Zeit von selbstgenügsamer Bildung zum politischen Wollen zeigt sich 
wohl in keiner Schrift jener Tage so anschaulich wie in Fichte's Abhand- 
lung über Macchiavelli. Der Icarus unter den deutschen Idealisten, der 
Verächter des Wirklichen feierte jetzt den härtesten aller Realpolitiker, weil 
er in dem willensstarken Florentiner den Propheten seines Vaterlandes 
erkannte. Während die Trommeln der französischen Garnison drunten 
vor den Fenstern der Akademie erklangen, hielt Fichte dann seine Reden 
an die deutsche Nation. Zerknirscht und erschüttert, im Gewissen gepackt 
lauschte die Versammlung, wenn der stolze Mann mit den strafenden 
Augen und dem aufgeworfenen Nacken schonungslos in's Gericht ging mit 
der tief gesunkenen Zeit, da die Selbstsucht durch ihr Uebermaß sich selbst 
vernichtet habe, und endlich den Hörern sein radicales Entweder — Oder 
auf die Brust setzte: ein Volk, das sich nicht selbst mehr regieren kann, 
ist schuldig seine Sprache aufzugeben. Darauf riß er die Gedemüthigten 
wieder mit sich empor und schilderte ihnen die unverwüstliche Kraft und 
Majestät des deutschen Wesens so groß, so kühn, so selbstbewußt, wie in 
diesen zwei Jahrhunderten des Weltbürgerthums Niemand mehr zu 
unserem Volke geredet hatte, aber auch mit der ganzen unklaren Ueber- 
schwänglichkeit des neuen literarischen Nationalstolzes: die Deutschen allein 
sind noch ursprüngliche Menschen, nicht in willkürlichen Satzungen erstorben, 
das Volk der Ideen, des Charakters; wenn sie versinken, so versinkt das 
ganze menschliche Geschlecht mit. Soll der Menschheit noch eine Hoff- 
nung bleiben, so muß ein neues deutsches Geschlecht erzogen werden, 
das in seinem Vaterlande den Träger und das Unterpfand der irdischen 
Ewigkeit verehrt und dereinst den Kampf aufnimmt gegen den vernunft- 
losen, hassenswürdigen Gedanken der Universalmonarchie. 
Die Predigten Schleiermacher's erregten den Argwohn der französischen 
Spione. Mit dem hochfliegenden Pathos dieses Redners, der die Erfül- 
lung seiner Träume auf eine zukünftige Generation verschob, wußten die
	        
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