Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Vormarsch der Russen. 427 
in jenen Plänen der Wiederherstellung Polens, welche der Czar seinem 
preußischen Freunde beharrlich verschwieg. Diese Hinterhaltigkeit Alexander's 
erscheint nicht nur sehr häßlich neben der treuherzigen Offenheit Friedrich 
Wilhelm's; sie erwies sich auch bald als ein politischer Fehler, denn sie 
erschütterte, als das Geheimniß endlich an den Tag kam, das Vertrauen 
zwischen den beiden Mächten, brachte das preußisch-russische Bündniß eine 
Zeit lang in's Schwanken. 
Die Lage Preußens blieb freilich nach wie vor dem Vertrage sehr 
unsicher. Der Czar eilte das Herzogthum Warschau ganz in Besitz zu 
nehmen. Preußische Ingenieure und Batterien wirkten mit bei der Be- 
lagerung von Thorn und Modlin; dieser polnische Festungskrieg schwächte 
die für die Feldarmee verfügbaren Streitkräfte und hat, wie die preußi- 
schen Offiziere zornig bemerkten, wesentlich dazu beigetragen, daß der 
Frühjahrsfeldzug in Sachsen verloren ging. Also brachte Preußen harte 
Opfer für die Eroberung Polens und sah dann ruhig mit an, wie eine 
von dem Cezaren eingesetzte provisorische Regierung die Verwaltung des 
gesammten Herzogthums leitete. Die Russen waren ihrer Beute sicher, 
Preußen konnte nur auf die Zukunft hoffen. Ueber Deutschlands künftige 
Verfassung ging man vorläufig mit Stillschweigen hinweg; denn Alexander 
äußerte sich zwar zustimmend, wenn ihm Stein von der Bildung zweier 
deutscher Großmächte sprach,') er wußte jedoch bereits, daß weder Oester- 
reich noch England noch Schweden mit solchen dualistischen Plänen ein- 
verstanden war. Auch die Bestimmungen des Vertrags über die mili- 
tärischen Leistungen der Verbündeten brachten dem preußischen Staate 
schweren Nachtheil. Die Regierung konnte im Februar selbst noch nicht 
übersehen, welche gewaltigen Streitkräfte der unvergleichliche Opfermuth 
der Nation entfalten würde; sie war hochherzig entschlossen das Größte 
zu thun, wollte aber nicht mehr versprechen als was sie sicher leisten könnte. 
Czar Alexander dagegen schätzte seine Feldarmee fast auf das Vierfache 
ihrer augenblicklichen Stärke, theils weil er als die führende Macht der 
Coalition erscheinen wollte, theils weil er im Rausche seines Caesaren- 
stolzes sich selber täuschte; man weiß bei ihm niemals recht, wo der Selbst- 
betrug aufhört und der Betrug beginnt. Freund und Feind glaubte noch 
seinen Uebertreibungen; zu Anfang Februars, in einer Unterredung mit 
Knesebeck, rechnete Metternich, Preußen werde wohl die 150,000 Russen 
durch 50 oder 60,000 Mann verstärken können. Die Kalischer Verein- 
barung verpflichtete Rußland 150,000 Mann, Preußen 80,000 Mann in's 
Feld zu stellen. Die wirklichen Streitkräfte der beiden Verbündeten aber 
standen lange im umgekehrten Verhältniß; Preußen leistete von vornherein 
weit mehr als der Vertrag bedang, Rußlands Feldarmee erreichte erst 
gegen den Herbst die vertragsmäßige Stärke. Hardenberg legte beim Ab- 
  
*) Stein an Hardenberg, 13. April 1813.
	        
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