Opfermuth des Volkes. 433
Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe
zum Vaterlande wiedergefunden: stürmisch, wie nie mehr seit den Zeiten
der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen
Leidenschaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der
Handwerker die Werkstatt, rasch entschlossen, als verstünde sich's von selber:
die Zeit war erfüllet, es mußte sein. War doch auch der König mit allen
seinen Prinzen in's Feldlager gegangen. In tausend rührenden Zügen
bekundete sich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in Schlesien
arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige Kameraden
für das Heer auszurüsten; ein pommerscher Schäfer verkaufte die kleine
Herde, seine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu seinem Regi—
mente. Mit Verwunderung sah das alte Geschlecht alle jene herzerschüt—
ternden Auftritte, woran der Ernst der allgemeinen Wehrpflicht uns Nach—
lebende längst gewöhnt hat: hunderte von Brautpaaren traten vor den
Altar und schlossen den Bund für das Leben, einen Augenblick bevor der
junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen in West—
preußen und Oberschlesien theilten die Hingebung der Deutschen nicht;
auch in einzelnen Städten, die bisher vom Heerdienste frei gewesen, stießen
die neuen Gesetze auf Widerstand. Das deutsche und litthauische Landvolk
der alten Provinzen dagegen war seit dem gestrengen Friedrich Wilhelm J.
mit der Wehrpflicht vertraut. Zugleich wurden überall öffentliche Samm—
lungen veranstaltet, wie sie bisher nur für wohlthätige Zwecke üblich waren:
dies arme Viertel der deutschen Nation brachte mit der Blüthe seiner
männlichen Jugend auch die letzten kargen Reste seines Wohlstandes zum
Opfer für die Wiederauferstehung des Vaterlandes. Von baarem Gelde
war wenig vorhanden, aber was sich noch auftreiben ließ von altem
Schmuck und Geschmeide ging dahin. In manchen Strichen der alten
Provinzen galt es nach dem Kriege als eine Schande, wenn ein Haushalt
noch Silberzeug besaß. Kleine Leute trugen ihre Trauringe in die Münze,
empfingen eiserne zurück mit der Inschrift: „Gold für Eisen;" manches
arme Mädchen gab ihr reiches Lockenhaar als Opfer.
Eine wunderbare, andächtige Stille lag über dem in allen seinen
Tiefen erregten Volke. Den Lärm der Presse und der Vereine kannte
die Zeit noch nicht; aber auch im vertrauten Kreise wurde selten eine
prahlerische Rede laut. In den Tagen ihres häuslichen Stilllebens hatten
die Deutschen gern überschwänglichen Ausdruck an nichtigen Gegenstand
verschwendet; jetzt ward das Leben selber reich und ernst, Jeder empfand
die Größe der That, die Armuth des Wortes. Jeder fühlte, wie Niebuhr
gestand, still „die Seligkeit, mit seinem ganzen Volke, den Gelehrten und
den Einfältigen, dasselbe Gefühl zu theilen“, und Allen ward „liebend,
friedlich und stark zu Muthe". Recht nach dem Herzen seines Volkes
hatte Friedrich Wilheln's frommer Sinn den Wahlspruch „mit Gott für
König und Vaterland“ der Landwehr gegeben und angeordnet, daß die
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 28