602 II. 1. Der Wiener Congreß.
nichts anderes sein als die verewigte Anarchie; ein Italien mit Oester—
reich, mit dem Papste, den Bourbonen und den Erzherzogen mußte in
kläglicher Ohnmacht verharren. Es bedurfte einer langen Schule der
Leiden, bis den beiden schicksalsverwandten Nationen die Erkenntniß der
letzten Gründe ihres Unglücks aufging, bis jenes Wahngebilde des fried—
lichen Dualismus, das jetzt noch, und nicht durch einen Zufall, die besten
Köpfe beherrschte, in seiner Hohlheit erkannt ward und die alten stolzen
fridericianischen Ueberlieferungen wieder zu Ehren kamen. Die Herstel—
lung einer wohlgesicherten norddeutschen Macht, wie sie der Nation noth
that, war in Wien von Haus aus unmöglich, da Preußens Schicksal zum
guten Theile von dem Willen seiner Feinde und Nebenbuhler abhing.
Ein kühner genialer Staatsmann an Preußens Spitze hätte vermuthlich
das verschlungene Spiel der Wiener Verhandlungen weit einfacher ge—
staltet, die Krisis und die Entscheidung rascher herbeigeführt, doch, wegen
der erdrückenden Ungunst der Umstände, zuletzt schwerlich viel mehr er—
reicht als wirklich erlangt wurde.
Bei dieser vorläufig noch unheilbaren Schwäche der Mitte des Welt—
theils konnte das neue System des europäischen Gleichgewichts, das in
Wien begründet wurde, nur ein Nothbehelf sein, ein schwächlicher Bau,
der seine Dauer nicht der eigenen Festigkeit, sondern allein der allgemei—
nen Erschöpfung und Friedensseligkeit verdankte. Viele der schwierigsten
und gefährlichsten Streitfragen des Völkerrechts mußte man unerledigt
liegen lassen und tröstete sich mit jener Gelegenheitsphrase, die nun bald
modisch wurde: c'est une question vide. Immerhin blieb aus den
bitteren Lehren dieser entsetzlichen Kriegsjahre mindestens ein großer und
neuer Gedanke als ein Gemeingut der politischen Welt zurück: selbst die
frivolen Durchschnittsmenschen der Diplomatie fingen an zu begreifen,
daß der Staat doch nicht bloß Macht ist, wie das alte Jahrhundert ge—
wähnt hatte, daß sein Leben doch nicht allein in der Belauerung und
behenden Uebervortheilung der Nachbarmächte aufgeht. Der Anblick jener
Triumphe, welche der Revolution und ihrem gekrönten Helden durch die
Zwietracht der alten Mächte bereitet wurden, hatte doch endlich ein leben—
diges europäisches Gemeingefühl erweckt. Die befreite Welt war ernstlich
gesonnen in einer friedlichen Staatengesellschaft zusammenzuleben; sie
fühlte, daß den Staaten, trotz aller trennenden Interessen, eine Fülle
großer Culturaufgaben gemeinsam war, die allein durch freundliche Ver—
ständigung gelöst werden konnten. Mochte die mechanische Staatsan—
schauung vergangener Tage noch überwiegen, die gewissenlose Staats-
raison der alten Cabinetspolitik war bereits im Untergehen; und es bleibt
das dauernde historische Verdienst des Wiener Congresses, daß er für
den freundnachbarlichen Verkehr der Staatengesellschaft einige neue For-
men und Regeln fand. Ein Fortschritt war es doch, daß man sich über
die Vorschriften der internationalen Etikette, über die Rangordnung der