Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

614 II. 1. Der Wiener Congreß. 
hinderte ihn keineswegs, sofort auf dem Congresse, ohne Wissen des Prinz- 
regenten, für seine Welfen ebenfalls ein hannoversches Zaunkönigthum zu 
verlangen — eine anmaßliche Königskrone, deren unhaltbare Ansprüche 
dereinst noch schwer auf dem kleinen Lande lasten sollten. 
Es war der Fluch dieser kleinstaatlichen Welt, daß sich ein ehrenhafter 
Nationalstolz in ihr nicht bilden konnte. Wie oft Münster auch mit vollem 
Athem von Deutschlands Größe redete, so setzte er doch seinen Stolz dar- 
ein, daß alle seine Kinder Engländer waren. Und wie laut er auch den 
Freisinn der wahren Aristokratie zu rühmen pflegte, so war er doch selber 
ganz und gar befangen in den lakaienhaften Vorstellungen, welche die ge- 
werbmäßige Geschichtsverfälschung des Particularismus in den deutschen 
Kleinstaaten ausgebildet hatte. Dies welfische Haus, das seit Heinrich 
dem Löwen der deutschen Nation nahezu nichts gewesen, war ihm das 
herrlichste der Erde. Ganz so urtheilslos wie die unterthänigen Göttinger 
Professoren schrieb er die Blüthe des englischen Parlamentarismus, die 
sich doch allein durch die erbliche Unfähigkeit der welfischen George und 
auf Kosten ihrer Krone entwickelt hatte, der Weisheit des Hauses Braun- 
schweig zu und fand auch in der verknöcherten Junkerherrschaft des alt- 
adlichen Hannoverlandes die geliebte „welfische Freiheit“ wieder. Diesen 
großen Augenblick, da Deutschland endlich wieder sich selber angehörte, 
dachte er zu benutzen, um die gerechte Strafe, welche Heinrich der Löwe 
vor mehr denn sechshundert Jahren für seine Felonie empfangen hatte, 
rückgängig zu machen; dagegen fand er es höchst anmaßend, daß Preußen 
seinerseits die vor sieben Jahren erlittene rohe Mißhandlung fühnen wollte. 
Diesem Nachbar widmete der welfische Staatsmann glühenden Haß, 
ohne daß er je versucht hätte, die preußischen Zustände auch nur ober- 
flächlich kennen zu lernen. Unter den politischen Sünden, welche dieser 
unglücklichen Nation die Bahn zur Macht und Freiheit versperrten, ward 
keine so verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten Volke fast wun- 
derbare Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der neueren vaterländischen 
Geschichte. Von allen den gewaltigen Umgestaltungen, welche die Ent- 
stehung des preußischen Volksheeres und damit die Befreiung Deutsch- 
lands erst ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinstaaten schlechterdings 
nichts. Wie die Rheinbündner ungeheuerliche Märchen erzählten von dem 
Stumpfsinn der leibeigenen brandenburgischen Bauern und der Tyrannei 
des preußischen Junkerthums, so sprachen die Hannoveraner wegwerfend 
von der Vielregiererei der Berliner Bureaukratie. Die Klügsten dort zu 
Lande blieben von solchem Dünkel nicht frei. In den Jahren, da der 
hannoversche Staat gar nicht mehr bestand, schrieb Rehberg, der bedeu- 
tendste Mann unter jenen bürgerlichen Räthen, die für die adlichen hanno- 
verschen Minister die Arbeit besorgen mußten, sein Buch über die Verwal- 
tung in Monarchien, eine Verherrlichung des welfischen Adelsregiments im 
Gegensatz zur preußischen Knechtschaft; die treffende Widerlegung, welche
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.