Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

10 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
auf den großen Zusammenhang der Wissenschaften gerichtet. Es war der 
Stolz dieses fruchtbaren Geschlechts, durch die Aufstellung genialer Hypo- 
thesen und großer Gesichtspunkte die Wege zu weisen, welche nachher die 
gewissenhafte Einzelforschung zweier Generationen für alle Welt gangbar 
gemacht hat. 
Durch das Aufblühen der Wissenschaft traten die Universitäten in 
den Vordergrund des geistigen Lebens der Nation. Zu allen Zeiten hatten 
sie an den Kämpfen und Wandlungen der deutschen Gedankenarbeit ihren 
reichen Anteil genommen; jetzt aber übernahmen sie wieder die führende 
Stellung im Reiche des Geistes, wie einst zur Zeit des Humanismus 
und der Anfänge der Reformation. Das Professorentum erlangte nach 
und nach einen bestimmenden Einfluß auf die Sitten und Anschauungen 
unseres Volkes, wie in keinem anderen Lande; unter den hervorragenden 
Schriftstellern der folgenden Jahrzehnte fanden sich nur wenige, die nicht 
auf längere oder kürzere Zeit ein akademisches Lehramt bekleideten. Die 
Berliner Universität überflügelte bald alle anderen; an ihr wirkten in 
diesen Jahren die meisten reformatorischen Köpfe deutscher Wissenschaft; 
doch war sie nie mehr als die erste unter Gleichen, für eine Zentrali- 
sation der Bildung bot dies Land keinen Boden. Niemals sind unsere 
Hochschulen so wahrhaft frei, so tief innerlich glücklich gewesen wie in 
jenen stillen Friedensjahren. Die streitbare Jugend brachte neben ihren 
teutonischen Unarten, ihren anmaßlichen politischen Träumen doch auch 
einen schönen Enthusiasmus, eine warme Empfänglichkeit für die Ideale 
mit von den Schlachtfeldern heim; die wüste Roheit und Völlerei der 
alten Zeiten kehrte so nicht wieder. Der Unterricht blieb von zünftigem 
Zwange und zünftiger Abrichtung frei; denn jeder fühlte, daß in der 
Wissenschaft selber alles noch in jugendlichem Werden war. Niemand 
verwunderte sich, wenn ein Gelehrter noch in reifen Jahren von einem 
Fache zum andern übersprang oder wenn ein Philolog, wie Dahlmann, 
der nie eine historische Vorlesung gehört, auf den Lehrstuhl der Geschichte 
berufen wurde. Wer das Zeug hatte, selber ein Meister zu werden, den 
fragte niemand: wessen Schüler er sei? Die meisten Dozenten betrieben 
ihr Lehramt mit liebevollem Eifer; aber wenn ein heller Frühlingstag 
ins nahe Gebirge hinauslockte, dann schrieb auch der Fleißige ohne Um- 
stände sein hodie non legitur an die Tür des Hörsaals. 
Um bedeutende Lehrer der Philosophie, der Geschichte, der Philologie 
drängten sich die Studenten aus allen Fakultäten, und mancher lebte 
Jahre lang in solchen Studien bevor er an sein Berufsfach dachte. Denn 
noch verstanden die Gymnasien, weil sie die geisttötende Vielwisserei ver- 
mieden, die dauernde Freude am klassischen Altertume und den Drang 
nach freier menschlicher Bildung in ihren Schülern zu erwecken. Und 
noch war die Krankheit der heutigen Universitäten, die Examen-Angst fast 
gänzlich unbekannt. Die altberühmten Heimstätten der klassischen Ge-
	        
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