Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Wittgenstein. Karl von Mecklenburg. Ancillon. 189 
bei der Mehrzahl der Offiziere nicht beliebt, in der gebildeten Gesellschaft 
der Hauptstadt gründlich verhaßt. Denn er nährte in seinem Gardekorps 
ein dünkelhaftes Wesen, daß dem Zivil wie den Linientruppen gleich anstößig 
ward, und blieb trotz seiner Jugend ein Berufssoldat der alten Schule, 
ein entschiedener Gegner der neuen Heeresverfassung. In der Politik schloß 
er sich eng an Wittgenstein an und bekämpfte wie dieser jede Neuerung, 
die dem Wiener Hofe mißfallen konnte. Und einmal doch in diesen Über— 
gangsjahren erlangte die reaktionäre Partei einen großen Erfolg: durch die 
Deklaration vom 29. Mai 1816 wurde die Ablösung der bäuerlichen Lasten 
auf die Ackernahrungen, die spannfähigen Bauerngüter beschränkt. Die 
Neuerung ließ sich zur Not entschuldigen, weil die großen Grundbesitzer 
des Ostens der Tagelöhner in ihrer Wirtschaft nicht entbehren konnten; 
doch sie beeinträchtigte die Ausführungen der Hardenbergischen Agrargesetze. 
Noch mächtiger war der stille Einfluß Ancillons. Der in alle Sättel 
gerechte Theolog wurde im Jahre 1814 als Geheimer Rat im Auswärtigen 
Amte angestellt und schwamm jetzt wieder selbstgefällig obenauf, obgleich der 
Erfolg des Krieges alle seine kleinmütigen Warnungen Lügen gestraft hatte. 
Hardenberg glaubte durch diese Ernennung eine Brücke zwischen der Wissen- 
schaft und der Politik zu schlagen; denn Ancillon verdankte seiner seichten, 
aber vielseitigen und immer für die Unterhaltung des Salons bereiten Ge- 
lehrsamkeit ein hohes Ansehen, das auch reichere Geister bestach. Die Diplo- 
maten rühmten die sokratische Gelassenheit, die urbane Milde seiner Um- 
gangsformen; selbst Schön, der alles tadelte, ließ ihn gelten, und noch in 
späteren Jahren schaute der junge Leopold Ranke bewundernd zu ihm auf. 
Er hatte am Ausgang des alten Jahrhunderts als eleganter Prediger an 
der französischen Gemeinde den weichlichen Geschmack der Zeit glücklich ge- 
troffen und dann als Lehrer der Staatswissenschaft an der Kriegsschule seine 
Gemeinplätze mit so feierlicher Gespreiztheit, mit einem so überlegenen staats- 
männischen Lächeln vorgetragen, daß sein Zuhörer, der junge Nesselrode sich 
ganz bezaubert fühlte. Bei Hofe verstand er durch untertänige Beflissen- 
heit seinen Platz unter den vornehmen Herren zu behaupten. Es ward 
verhängnisvoll für eine späte Zukunft, daß auch Königin Luise und der 
Freiherr vom Stein sich durch den erschlichenen Ruhm des glatten Halb- 
franzosen blenden ließen und ihm die Erziehung des jungen Thronfolgers 
anvertrauten. So geriet der verschwenderisch begabte, aber phantastische 
und eigenwillige Geist des Prinzen, der vor allem einer strengen Zucht 
und der Belehrung über die harte Wirklichkeit des Lebens bedurfte, unter 
die Leitung eines charakterlosen Schönredners, der selber kaum fühlte, wie 
viel von seinem Tun der angeborenen Furchtsamkeit, wie viel der welt- 
klugen Berechnung entsprang. Seitdem wurde Ancillon auch zu den po- 
litischen Beratungen öfters zugezogen und schrieb nun unermüdlich mit 
seiner schwunglosen, verkniffenen kleinen Gelehrtenhand eine Masse von 
Denkschriften — breite Betrachtungen ohne Kraft und Schneide, die alle-
	        
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