230 II. 5. Die Wiederherstellung des preußischen Staates.
beabsichtigen“. Die allgemeine Dienstpflicht — so schrieb er in einer beredten
Entgegnung — ist „ein Band, welches das ganze Volk umschließt, und
dessen Enden sich in den Händen des Monarchen befinden“. Der König
ließ sich durch die Warnungen seines Schwagers nicht beirren, obwohl er in
Augenblicken der Verstimmung allerdings gestand, ganz unbedenklich sei es
nicht, Alle zu Soldaten zu machen. Die Verantwortlichkeit für den schwie-
rigen Versuch, der ihm als die weitaus wichtigste Aufgabe der preußischen
Politik erschien, lastete drückend auf seinem Gewissen. Kein anderer Staat,
sagte er zu Witzleben, legt seinem Volke so harte Lasten auf, und dabei
dennoch keine Möglichkeit, ganz gerecht zu verfahren, alle Wehrfähigen ein-
zustellen!?) Am Ende gab er doch zu, daß die neue Ordnung mit allen
ihren Mängeln eine leidliche Mittelstellung einnehme zwischen dem alten
Systeme und den Volksbewaffnungsträumen der Dilettanten. Niemals
ward er den Gedanken Scharnhorsts untreu. Nur eine engere Verbin-
dung zwischen Landwehr und Linie hielt er für unerläßlich; und da Boyen
diesem wohlberechtigten Plane hartnäckig widerstrebte, so entstand allmäh-
lich eine Entfremdung zwischen dem Könige und dem Kriegsminister, welche
schließlich zu Boyens Sturz führen sollte.
Uberraschend schnell, nach wenigen Jahren schon söhnte sich das
Volk mit der zuerst so widerwillig ausgenommenen neuen Heeresverfassung
völlig aus. Die Gerechtigkeit des Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht
sprang in die Augen; die mannhafte Ansicht, daß der Waffendienst eine
Ehre sei, entsprach dem natürlichen Gefühle einer tapferen Nation; und
so schwer die Last drückte, zerstörend wirkte sie nicht, da die Preußen bei der
Eheschließung und Niederlassung, im Handel und Gewerbe sich einer Frei-
heit erfreuten, die den deutschen Kleinstaaten noch fast unbekannt war. Wie
verwundert hatten die alten Berliner Bürger anfangs den Kopf geschüttelt,
wenn sie einen gemeinen Soldaten im eleganten Wagen daherfahren sahen;
bald ward der Einjährige eine gewohnte Erscheinung, und ganz von selber
stellte sich die Regel her, daß die Freiwilligen nicht, wie der Gesetzgeber
erwartete, bei den Jägern und Schützen, sondern bei dem nächstgelegenen
Truppenteile eintraten und also die gebildete Jugend sich über das ganze
Heer verteilte. Die allgemeine Wehrpflicht bewährte sich als das wirk-
samste Werkzeug zur Verschmelzung der alten und der neuen Provinzen.
Die zahlreichen sächsischen, westfälischen, französischen, polnischen, schwe-
dischen Offiziere, welche namentlich den Reiterregimentern zuströmten, ver-
wuchsen in gemeinsamer ernster Arbeit rasch mit dem alten preußischen
Stamme; denn seit alljährlich fast ein Drittel der Mannschaft neu eintrat,
war der Friedensdienst der Offiziere nicht mehr wie einst ein beschäftigter
Müßiggang. In der Schule des Heeres wurden die verwahrlosten Söhne
der polnischen Landesteile zur Ordnung, Sauberkeit, Haltung erzogen,
*Witzlebens Tagebuch, 9. Mai 1819.