Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Umschwung der russischen Politik. 451 
mit schwarzem Undank belohnt! Er fühlte sich erschüttert bis ins Mark; 
alle die gräßlichen Erlebnisse seiner Jugend, die Ermordung seines Vaters 
und der freche Ubermut der unbestraften Mordgesellen kamen ihm wie- 
der ins Gedächtnis. 
Zu strafen wagte er auch diesmal nicht; sorgfältig verbarg er sein 
Geheimnis vor aller Welt, doch sein Argwohn war geweckt, seine stolze 
Sicherheit gebrochen, und von der russischen Verfassung, die er soeben 
noch in Warschau dem staunenden Europa angekündigt, verlautete fortan 
kein Wort mehr. In seinen jungen Tagen hatte er sich an Speranskys 
liberalen Reformgedanken und an Czartoryskis polnischen Plänen be- 
geistert; jetzt wurde Fürst Alegander Galitzin sein Vertrauter, ein sanfter 
mystischer Schwärmer, der die Bußpredigten der Frau von Krüdener auf 
seine Weise fortsetzte. Noch häufiger als bisher übermannte den Zaren 
die Schwermut, der Ekel über die Lüge dieses Lebens. Er hatte Stunden, 
da er ernstlich daran dachte die Krone niederzulegen und sich in beschau- 
liche Einsamkeit zurückzuziehen; im Jahre 1819 kündigte er einmal dem 
Großfürsten Nikolaus diese Absicht feierlich an und fügte hinzu, daß er 
ihn, den dritten Bruder, als den kräftigsten Mann des Hauses über die 
Schultern des unfähigen Konstantin hinweg auf den Thron zu erheben 
denke. So radikale Entschlüsse vermochte Alexanders weiche Natur freilich 
nicht festzuhalten. Er blieb am Ruder und auch den holden Traum der 
christlich-liberalen Weltherrschaft gab er nicht gänzlich auf; noch oft genug 
hatte der Wiener Hof über bedenkliche Rückfälle Rußlands zu klagen. 
Aber das Schreckensbild des drohenden revolutionären Weltbrandes, das 
in allen Briefen Metternichs an Nesselrode beharrlich wiederkehrte, erschien 
dem Selbstherrscher jetzt nicht mehr als ein Phantom; er lächelte nicht 
mehr, wenn der österreichische Minister versicherte, Frankreich bleibe zwar 
der Herd der Revolution, doch die unruhige Bewegung auf den deutschen 
Universitäten sei im Grunde noch bedenklicher, weil die Deutschen alles, 
auch das politische Verbrechen mit Ausdauer und Ehrlichkeit betrieben. 
Er begann die Wiener Staatsmänner, die er bisher so tief verachtet 
hatte, allmählich mit andern Augen anzusehen und hielt sich überzeugt, 
daß nur die rückhaltlose Eintracht der Ostmächte die Ruhe der Welt zu 
sichern vermöge. 
Als er im September nach Deutschland kam, erschien er seinem preu- 
ßischen Reisebegleiter General Borstell wunderbar verändert. Keine Rede 
mehr von den liberalen Institutionen, von der Versöhnung zwischen Frei- 
heit und Ordnung; jetzt gelte es, das monarchische System und den 
Weltfrieden im Sinne der heiligen Allianz gegen die Mächte der Revo- 
lution zu verteidigen; deshalb allein, beteuerte der Zar, halte ich eine 
Million Soldaten auf den Beinen, um jeden zu zermalmen, der mein 
System zu stören wagt. Das gewohnte Prahlen mit imaginären Zahlen 
konnte er also auch jetzt noch nicht lassen; indes bemühte er sich eifrig, 
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