38 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Wie wenig kannten sie diesen allseitigen Geist, der eben damals mit
ruhigem Selbstgefühle sagte: Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß
Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu
Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutschen Romantik
unbefangen anerkannte, so war er doch mit nichten gemeint, im hohen
Alter zu dem Gedankenkreise seines Götz von Berlichingen zurückzukehren.
Er blieb der Klassiker, der den Benvenuto Cellini übersetzt und in seiner
Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutschen Renaissance ver—
kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum so lieb, weil dieser heitere
Genius gleich ihm selber germanischen Gedankenreichtum mit südlän-
discher Formenschönheit verband. Der Welterfahrene, der sich selbst oft-
mals demütig „ein borniertes Individuum“ nannte, wußte nur zu wohl,
wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür-
lichen Einseitigkeit verführen, und sah daher mit Entrüstung, wie die bewußte
und gewollte Einseitigkeit des Teutonentums den Deutschen ihr bestes
Gut, die freie Weltansicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm-
mern drohte. Wenn das junge Volk sich gar unterstand, ihm seine ge-
liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, sie des befruch-
tenden Verkehrs mit fremder Kultur zu berauben, dann brauste er auf
in hellem Titanenzorne. Die „malkontente, determinierte, zuschreitende"
Art des neuen Geschlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Wesen,
diese aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jakobinertrotz so
seltsam gemischte Formlosigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die
in dem Kloster auf dem Quirinal ihre Werkstatt aufgeschlagen hatten,
bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen ist.
Die fruchtbaren ersten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren
vorüber. Jetzt hieß die Losung „Frömmigkeit und Geniel!“; der Fleiß
ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erschienen so leer und
kahl wie die Klosterzellen von S. Isidoro selber. Scharf abwehrend trat
der Dichter dieser Richtung entgegen; sogar die Widmung der Cornelius=
schen Zeichnungen zum Faust würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte,
daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verstanden, die
klassischen Ideen aber, die nachher im zweiten Teile ihre Entfaltung
finden sollten, noch kaum bemerkt hatte.
Vor allem entsetzte den freien Geist des alten Klassikers „die Kin-
derpäpstelei“, das erkünstelte neukatholische Wesen der verfallenden Ro-
mantik. Es wurde verhängnisvoll für den ganzen Verlauf der deutschen
Gesittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geistvolle Form
des positiven christlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In
seiner Jugend verkehrte er eine Zeitlang mit den schönen Seelen des
Pietismus, jedoch der enge Gesichtskreis dieser Stillen im Lande ver-
mochte den Genius nicht zu fesseln. Im Alter trat er mit den Beken-
nern jenes tiefsinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Christentums,