46 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
aus allen Landesteilen des Staates schlossen sich an; York stiftete die
schweren Zinnen über Meisters Morgenhellem Gemach, Stein hing sein
Wappenschild an einem Pfeiler des oberen Burggangs auf. Bald prang—
ten an den bunten Fenstern die Bilder aus Preußens alter und neuer
Geschichte; denn gerade in diesen Jahren erwachte die alte Kunst der Glas-
malerei, die mit so vielen anderen Segnungen der Kultur in den Stür—
men des dreißigjährigen Krieges untergegangen war, wieder zu frischem
Leben. Da standen unter dem schwarzundweißen Banner der Ritter vom
deutschen Hause und der Landwehrmann des Befreiungskrieges, die Gym—
nasien des tapferen Grenzlandes schenkten ein Fenster mit Davids Schwert
und Harfe und der Inschrift: wer kein Krieger ist soll auch kein Hirte
sein! Alle Herzensgeheimnisse des romantischen Geschlechts traten bei
diesen Spenden an den Tag; wie fühlten die Deutschen sich glücklich, daß
sie wieder ein Recht hatten den Helden ihrer großen Vorzeit frei ins Ge—
sicht zu sehen. Alles jubelte, als der junge Kronprinz in den mächtigen
Hallen der alten Burg ein Festmahl hielt und nach seiner enthusiastischen
Weise den Trinkspruch ausbrachte: „Alles Große und Würdige erstehe
wie dieser Bau!“
Gleichwohl vermochte die gotische Richtung in der Kunst ebensowenig
die Oberhand zu erlangen wie die schwäbischen Dichter in der Poesie.
Die Ideen Winckelmanns und Goethes behaupteten noch ihre Macht,
nirgends kräftiger als in Berlin. Hier standen noch die besten Werke
der deutschen Spätrenaissance, das Schloß, das Zeughaus und Schlüters
Kurfürstenstandbild, die Denkmäler einer klassisch gebildeten und doch natio—
nalen Kunstweise, verständlicher für das moderne Gefühl als die Bauten
des Mittelalters. Hier in dem Mittelpunkte einer großen, aber jungen
Geschichte mußte die Rückkehr zu den Bauformen des vierzehnten Jahr—
hunderts als willkürliche Künstelei erscheinen. Und jetzt erst begann man
mit den echten Werken der Hellenen vertraut zu werden. Winckelmann
hatte einst fast nur die römischen Nachbildungen der griechischen Kunst
kennen gelernt und noch gar nicht bemerkt, welchen weiten Weg das Alter-
tum von den dorischen Zeiten und den goldenen Tagen des Perikles
bis herab zu der Epoche der hadrianischen Nachblüte durchlaufen hatte.
Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts wurde der Boden Griechen-
lands selbst durchforscht; die Elginschen Marmorwerke wanderten nach
London, die Aegineten im Jahre 1816 nach München. Mit der Erkennt-
nis wuchs die Bewunderung für die Antike. Zugleich trat in Rom jener
nachgeborene Hellene auf, der wie kein anderer moderner Mensch in der
klassischen Formenwelt lebte und nur durch ein rätselhaftes Spiel des
Schicksals in diese neuen Jahrhunderte verschlagen schien. Eine starke
germanische Ader lag doch in Thorwaldsens mächtiger Natur. Den Deut-
schen sprach seine Kunst unmittelbar zum Herzen, sie zählten den Is-
länder halb zu den Ihren; hatte er doch an dem Nachlaß des Deutschen