Ratlosigkeit des russischen Hofes. 589
schlechter Ratgeber, und sie scheint die Karlsbader Beschlüsse diktiert zu
haben. Sind die deutschen Fürsten darum Souveräne um sich irgend
einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, so sollen sie sich ein Oberhaupt
wählen, aber eines, nicht achtunddreißig.“ Möge der Karlsruher Hof, so
schloß er, sich's zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Konferenzen
neuen Beschlüssen zustimmt, welche den Deutschen Bund in einen Bundes—
staat verwandeln werden!“) Die russischen Gesandten an den kleinen
Höfen, Anstett in Frankfurt, Pahlen in München, Koselowsky in Stuttgart
vermochten sich in diesen seltsamen Widersprüchen nicht zurechtzufinden: sie
hielten sich also an den altmoskowitischen Grundsatz, daß der Unfriede in
Deutschland für Rußland heilsam sei, und versäumten nichts, was den
Widerstand gegen die deutschen Großmächte ermutigen konnte.
Am 30. November trat Kapodistrias endlich etwas kühner auf und
versendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkschriften: eine Antwort an den
österreichischen Gesandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutschen
Großmächte, eine Zirkulardepesche an die russischen Gesandten in Deutsch-
land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes-
beschlüsse.“) Der gewaltige Wortprunk dieser Aktenstücke bewies nur zu
klar, daß der Grieche seine ganze Meinung nicht sagen durfte. Kaiser
Alexander — das war der langen Rede kurzer Sinn — begrüße in den
Karlsbader Beschlüssen einen neuen Beweis der hochherzigen Absichten
seiner Alliierten. Aber er vermöge dem Geschehenen nicht so unbedingt seinen
Beifall zu geben, wie der preußische Hof erwarte; denn er bemerke mit
tiefem Schmerz, daß unter den deutschen Regierungen selber kein Einmut
bestehe; manche von ihnen „mißbilligen heute durch die Tat was sie
gestern im Grundsatz angenommen haben.“ Angesichts dieser Zwietracht
und der schweren Krankheit Deutschlands, die sich auch in der beginnenden
Auswanderung bekunde, könne der Kaiser keine bestimmte Meinung aus-
sprechen bevor er den Hof von St. James um Rat gefragt habe.
Also Rußland suchte Rat bei seinen geschworenen Feinden, den eng-
lischen Torys, und dies England stand unerschütterlich auf Osterreichs
Seite! Graf Münster, noch immer der einzige Ratgeber Lord Castlereaghs
in allen deutschen Fragen, betrieb die Karlsbader Politik fast noch freudiger
als Metternich selber, er hatte noch von Böhmen aus den Geheimen Räten
des Herzogtums Braunschweig, das unter der vormundschaftlichen Regie-
rung des Prinzregenten stand, die neue korrekte Doktrin von den deutsch-
rechtlichen Landständen nachdrücklich eingeschärft. Einen so namenlos un-
geschickten Fechterstreich abzuschlagen konnte den deutschen Großmächten
nicht schwer fallen. Hardenberg schrieb sogleich an Castlereagh (30. Dez.),
forderte ihn freundschaftlich auf, diesem Sophisten Kapodistrias, „der uns
*) Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819.
**) Kapodistrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftstücke bei
F. von Weech, Korrespondenzen S. 19 f.