Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

60 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
Rechts werde nicht durch subjektive Ideen bestimmt, sondern durch den 
Geist der Völker, der in der Weltgeschichte sich offenbare; das Recht führe 
kein Dasein für sich, sondern es werde und wachse, gleich der Sprache, 
mit den Völkern, mit ihrem Glauben, ihren Sitten, ihrem ganzen gei— 
stigen Vermögen. Darum erfolge auch die Rechtsbildung nicht, wie die 
beiden letzten Jahrhunderte glaubten, allein oder überwiegend durch die 
Gesetzgebung, sondern unter beständiger Mitwirkung des Volkes selber, 
die sich in dem Gewohnheitsrechte und, bei reiferer Bildung, in der be— 
wußten Arbeit der Rechtswissenschaft betätige; gerade in jugendlichen Völ— 
kern erscheine die rechtsbildende Kraft am stärksten, die beschränkte aber 
lebensvolle Individualität des Rechts noch nicht verkümmert durch jene un— 
bestimmte Allgemeinheit, die dem Rechte alternder Nationen eigentümlich 
scheine. Dann wird an dem Beispiele der Kunstgeschichte erwiesen, daß 
nicht jede Zeit zu jedem Werk berufen sei, und darauf der völlig unreife 
Zustand der deutschen Rechtswissenschaft dargetan; wie weit war sie doch, 
in ihrem Ideengehalte wie in der Ausbildung ihrer Sprache, zurückge— 
blieben hinter dem Aufschwung der allgemeinen Literatur, und wie stüm— 
perhaft mußte ein mit so mangelhaften Kräften unternommenes Gesetz- 
buch ausfallen! Was wir brauchen — so lautete der Schluß — ist eine 
der ganzen Nation gemeinsame, organisch fortschreitende Rechtswissenschaft, 
die das vorhandene Recht bis in seine ersten Quellen ergründet um der- 
gestalt zu zeigen, was in ihm noch heute lebendig ist und was einer 
überwundenen Vergangenheit angehört; in ihr ist die vorläufig erreichbare 
Einheit des deutschen Rechts gegeben; hat sie sich erst so selbständig ent- 
wickelt, daß sie das gegebene Recht geistig beherrscht, dann wird das Ver- 
langen nach einer Kodifikation, das bei den Römern erst in den Tagen 
des Verfalles sich äußerte, von selber verschwinden. 
Dieser Schrift verdankte die Wissenschaft des positiven Rechts, daß 
sie sich den anderen Geisteswissenschaften wieder ebenbürtig an die Seite 
stellen durfte. Das alte Jahrhundert hatte nur die Gedanken der Phi- 
losophen über das Recht geachtet, die Erforschung des wirklichen Rechts 
geringschätzig dem formalen Scharfsinn juristischer Handwerker überlassen. 
Jetzt erkannte die positive Rechtswissenschaft, daß ihr selber eine philoso- 
phische Aufgabe obliege, daß sie berufen sei zu lehren wie sich die Ver- 
nunft der Geschichte in dem Entwicklungsgange der Rechtsbildung offen- 
bart und entfaltet, und also teilzunehmen an der besten Gedankenarbeit 
des Zeitalters, das seinen Ruhm darin suchte der Menschheit das Be- 
wußtsein ihres Werdens und also ihres Wesens zu erwecken. In weiter 
Ferne zeigte sich endlich eine noch höhere Aufgabe, welche Savigny nur 
andeutete und kommenden Geschlechtern zur Lösung überließ: wenn es 
gelang die innere Notwendigkeit der Gestaltung des Rechts, seine Ver- 
kettung mit der Volkswirtschaft und der gesamten Kultur der Völker 
in jedem einzelnen Falle nachzuweisen, dann mußten zuletzt auch die Ge-
	        
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