Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Vernunftrecht und historisches Recht. 63 
risches Recht zu geben und urteilte offenbar ungerecht über den Code 
Napoleon. Voll Abscheus gegen die seichte Neuerungslust der modernen 
Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den 
Volksgeist, sondern durch den Volkswillen bestimmt wird, der in Zeiten 
höherer Gesittung nur durch den Mund des Staates sich aussprechen 
kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ— 
kerlebens, die dem rückschauenden Geschichtsforscher als unabwendbare 
Notwendigkeiten erscheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden, 
durch die Wahl und Qual des freien Entschlusses möglich werden. Wer 
ihm blindlings folgte, konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen 
und sich versucht fühlen, die köstlichste Kraft der historischen Welt, die 
Macht des Willens ganz aus der Geschichte zu streichen. Der Ausspruch 
„eine Verfassung kann nicht gemacht werden, sie muß werden“, das viel— 
deutige Lob der „organischen Entwicklung“ und ähnliche Lieblingssätze der 
historischen Schule dienten der gedankenlosen Ruheseligkeit zum willkom— 
menen Lotterbette. So geschah es, daß eine Tat der deutschen Wissen— 
schaft, welche die gesamte Nation mit Stolz hätte erfüllen sollen, als- 
bald in den kleinen Zank des Tages herabgerissen wurde. Die Masse 
der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur- 
rechts fest und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr historischen Sinn, 
mehr Verständnis für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die konser- 
vativen Parteien eigneten sich mehr oder minder ehrlich die Ideen der 
historischen Schule an und schauten mit dem Bewußtsein wissenschaftlicher 
Uberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver- 
nunftrecht und historisches Recht! — so lauteten die Losungsworte eines 
im Grunde sinnlosen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die 
Verbitterung unseres öffentlichen Lebens steigerte und zuweilen zu völliger 
Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erst der herben Erfahrungen des 
Jahres 1848, bis die Einen die Geschichte als ein ewiges Werden begreifen 
lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das histo- 
risch Begründete vernünftig ist. Seitdem erst verlor der Name der histo- 
rischen Schule den gehässigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un- 
zerstörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge- 
mäßigten Politiker. 
Unter den Bahnbrechern der neuen historischen Bildung beherrschte 
doch keiner einen so weiten Gesichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand 
trat dem literarischen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch- 
gelehrsamkeit so scharf, so verächtlich entgegen, wie dieser Mann des uni- 
versalen Wissens, der jeder Bewegung der Politik, der Wissenschaft und 
der Kunst im Weltteil mit hellem Verständnis folgte. Das unpolitische 
Geschlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers ästhetische Geschichtser- 
zählungen und die geschichtsphilosophischen Versuche Herders und Schle- 
gels höher geschätzt als Spittlers sachlich politische Darstellung; Niebuhr
	        
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