66 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
schaftliche sogar, daß der epikuräische Zeitgeist dieser genügsamen Tage jede
wissenschaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbesaitetes Gemüt empfand
ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; schon als
Student hatte er beim Durchlesen von Fichtes Verteidigung der Revo—
lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn solche Grund—
sätze zur Herrschaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und
zudem eines jener seltenen Wunderkinder, die als Männer halten was
ihre Frühreife zu verheißen schien, ward er von Kindesbeinen an ver—
wöhnt durch die Bewunderung seiner Umgebungen und selber schon be—
rühmt bevor er noch etwas geschrieben hatte; dann stand der Liebevolle
sein Lebelang in vertrauter zärtlicher Freundschaft mit geistvollen Män—
nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deserre; das Platte und Niedrige
ließ er nicht an sich heran. Was Wunder, daß diesem Aristokraten des
Geistes nichts entsetzlicher vorkam als jene Macht der breiten Mittelmäßig-
keit, die in demokratischen Epochen immer das große Wort führt.
Wenn er die politische Unreife seines Volkes und die Trivialität der
landläufigen konstitutionellen Doktrinen betrachtete, dann schien ihm mit
Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geschehen, und er mußte
von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: „Verfassung und
Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem
sie unfehlbar zusammenlaufen um nicht wieder auseinander zu weichen.“
Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italienischen Regierungen durchschaute
und offen aussprach, Rom sei unter Napoleon weit glücklicher gewesen
als unter dem wiederhergestellten Papsttum, so übermannte ihn doch der
Todhaß wider die Revolution sobald der erste Aufstand von dem miß-
handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder ein
Bösewicht könne in diesem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende
Denker, der schon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwischen
dem Süden und dem Norden der amerikanischen Union voraussah, be-
wies doch durch seinen niederländischen Verfassungsplan, daß die gründ-
lichste Kenntnis der Vergangenheit das gänzliche Mißverstehen der Gegen-
wart keineswegs ausschließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude
der Republik der sieben Provinzen bis in seine letzten Ecken und Winkel
und wußte, warum es morsch zusammengebrochen war. Als ihn aber im
November 1813 der Prinz von Organien aufforderte seine Vorschläge für
den Neubau niederzuschreiben, da konnte sich der Feind der Revolution
doch nicht entschließen, den gewaltigen Umsturz, der seit dem Jahre 1794
über das Land gekommen war, mindestens als eine Tatsache anzuer-
kennen. Der durch Frankreichs Waffen geschaffene, aber durch die Geschichte
des Landes längst vorbereitete Einheitsstaat galt ihm als revolutionäre
Einerleiheit; alles Ernstes dachte er den gänzlich vernichteten Föderalismus
wieder zu beleben und forderte die Wiederherstellung des alten Staaten-
bundes. Die historische Pietät verführte ihn also zu einem Entwurfe,