Die Gebrüder Grimm. 69
standteilen des Wortschatzes. So kam alsbald Gesetz und Leben in den
Werdegang unserer Sprache, der bisher so rätselhaft und zufällig schien.
In dem unschuldigen, poetischen, leiblich frischen Jugendleben der Völker
— so führte Grimm mit künstlerischer Lebendigkeit aus — zeigt auch die
Sprache sinnliche Kraft und Anschaulichkeit, sie liebt die Form um der
Form willen, schwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei-
fender Kultur wird auch sie geistiger, abstrakter, auf Klarheit und Kürze
bedacht, das stumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch-
terne Verstand kümmert sich nicht mehr um die sinnlichen Bilder, welche
den Wörtern zugrunde liegen, und nach und nach wird alles ausge-
stoßen oder abgeschliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des
Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetisches Gemüt der
formreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch seine
eigene Redeweise mit den Jahren immer sinnlicher und bilderreicher wurde.
Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder
rückgängig werden durfte, und verwarf darum strenge jene vorwitzigen
Sprachreinigungsversuche, die bei den teutonischen Eiferern für patriotisch
galten: das heiße unsere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von
heute behandeln.
Ein Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes seiner Grammatik
entdeckte Grimm das Gesetz der Lautverschiebung und gab damit der Ety-
mologie, die sich bisher unsicher tastend an die Ahnlichkeit des Klanges
der Wörter gehalten hatte, endlich einen festen wissenschaftlichen Boden.
Unterdessen hatte sein rastlos kombinierender Kopf auch schon die uran-
fängliche Verwandtschaft aller indogermanischen Sprachen erkannt; ent-
zückt verweilte er vor der unendlichen Fernsicht, die sich auf dieser Höhe
auftat. Ließ sich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den
jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits
bewiesen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem
rätselhaften Urvolke der Indogermanen schon bekannt gewesen sein mußte.
Und so konnte nach und nach die geheimnisvolle Völkerwiege Indiens
aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforscht werden, welche Stufe
der Gesittung die Völker Europas schon erreicht hatten bevor sie sich
trennten und die Wanderung gen Westen antraten, was ihnen gemein
war von Anbeginn und was sie sich erst erwarben ein jedes auf seinem
eigenen Wege. Die historischen Wissenschaften standen mit einem Male
vor einer unübersehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerste Seelen-
leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menschenaltern
seitdem erst zum kleinsten Teile ihre Lösung gefunden haben.
Während Jacob Grimm also, ein glücklicher Finder, von Entdeckung
zu Entdeckung fortschritt, gefiel sich sein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge-
stalten. Seine Freude war, die Werke unserer alten Dichtung in sauberen
Ausgaben, mit sinniger Erklärung dem nenen Geschlechte darzubieten; er