Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Schelling. 83 
Wenn der deutschen Naturforschung gelang, die Philosophie in ihre 
Schranken zurückzuweisen, dann durfte sie wohl hoffen die Nachbarvölker 
dereinst noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr schon jetzt nicht. 
Der Hallenser Meckel war in der vergleichenden Anatomie schon weit über 
Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre 
1810 die Möglichkeit des elektrischen Telegraphen behauptet; und in Göt— 
tingen lebte schon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme 
der reinen Theorie versunken, der Mathematiker Gauß, zu dessen Größe 
selbst Humboldt mit scheuer Ehrfurcht aufblickte — einer jener zeitlosen 
Denker, deren Wirksamkeit erst in dem Leben der kommenden Geschlechter 
ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik sei die Königin der 
Wissenschaften, und seine Zahlentheorie die Königin der Mathematik. 
Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausspruch tat: die Philosophie 
ist ihre Zeit in Gedanken gefaßt, so hatte er mindestens den Charakter 
seines Zeitalters recht verstanden. Fast in der gesamten geistigen Arbeit 
der Epoche, in den phantastischen Verirrungen der Naturwissenschaft wie 
in den fruchtbaren Entdeckungen der Historiker verriet sich der mächtige 
Einfluß der Ideen Schellings. Seine philosophische Lehre beherrschte 
noch die deutschen Gedanken, bis sie erst in den zwanziger Jahren durch 
Hegels System vom Throne gestoßen wurdez selbst die eigentümlich vor- 
nehme Haltung dieser Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor- 
bild des stolzen Philosophen, der alle unheiligen Sohlen so herrisch von der 
Schwelle seines Tempels abwies. In der Tat konnte dem Denkerstolze 
der Deutschen kaum eine größere Genugtuung bereitet werden als durch 
die Lehre dieses unendlich empfänglichen Geistes, der die Einheit des Realen 
und Idealen behauptete, die Natur als den sichtbaren Geist, den Geist 
als die unsichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutschen 
Philosophie schien gelöst, die Identität von Sein und Denken endlich er- 
wiesen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich gesehen, 
ohne ihr selbständiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen, 
wie sich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na- 
tur und der Geschichte. So ward ihm alles was da war und ist und 
sein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge 
der Erscheinungen entfaltete sich das eine göttliche Selbstbewußtsein: „vom 
ersten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchsten Lebenssäfte ist 
eine Kraft, ein Wechselspiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer 
höh'rem Leben.“ Neben Fichtes einseitigem Idealismus erschien dies all- 
umfassende System ebenso großartig und überlegen, wie Goethe neben 
Schiller — so lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken- 
bau nicht auf sicheren Beweisen, sondern nur auf den kühnen Behaup- 
tungen eines genialen Kopfes ruhte. » 
Mit Schelling begann jene krankhafte Uberhebung der Spekulation, 
die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unserer 
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