322 III. 5. Die Großmächte und die Trias.
überströmenden Artikel, der die liberalen Pläne des Abgeordneten Keßler,
„des Letzten der Römer“" und vornehmlich die hehren Absichten des Königs
selber schilderte: König Wilhelm sei bereit, sein Heer zu vermindern, auf
ein Drittel seiner Civilliste, welche den achten Theil des Staatseinkommens
verschlinge, hochherzig zu verzichten und insbesondere das unnütze
Ministerium des Auswärtigen aufzuheben; „dann gäbe es keine jener
Rundschreiben mehr, welche für nichts und wieder nichts so viel Lärm
erregen, die Regierung bloßstellen und den Staat gefährden.“" Mit dieser
Selbstkritik nahm der Staatsmann, der vier Jahre lang mittelstaatliche
Großmachtspolitik getrieben, von seinem Wirken Abschied! Der Verfasser
des Artikels wurde bald entlarvt und hatte sich für immer in der diplo-
matischen Welt unmöglich gemacht. Also waren bereits zwei Opfer dem
Grimme der Großmächte geschlachtet worden. Beiden Entlassenen ließ der
König unverbrüchliches Stillschweigen auferlegen; denn wollten sie reden,
so konnten sie leicht beweisen, daß der Monarch in dem kleinen Kriege
wider die Großmächte allezeit noch streitlustiger gewesen war als seine
Räthe.“)
Mit Alledem war das diplomatische Zerwürfniß noch immer nicht
ausgeglichen, da König Wilhelm sich schlechterdings nicht entschließen konnte,
den beleidigten Monarchen ein versöhnliches Wort zu schreiben. Vergeblich
versuchte er, bald durch seinen Gesandten Beroldingen in Petersburg, bald
durch Tatistscheff in Wien, die guten Dienste seines kaiserlichen Schwagers
zu erbitten. Der Czar meinte: am besten, wenn man den Schmollenden
eine Weile seinem eigenen Nachdenken überlasse; strecke man ihm auch nur
einen Finger entgegen, so werde er sich sogleich zu neuem Streite be-
geistert und in dem Gefühle seiner Wichtigkeit bestärkt fühlen') Mehr
als ein Jahr lang verharrte der württembergische Hof in seiner Ver-
einsamung: seine Gesandten führten in den Hauptstädten des Ostens ein
wenig beneidenswerthes Dasein, während in Stuttgart nur drei junge
Geschäftsträger der Ostmächte saßen, die sich mit dem Visiren der Pässe
begnügten und niemals bei Hofe erschienen. Die Hofbälle ohne Diplo-
maten boten einen herzzerreißenden Anblick. Auf Augenblicke tröstete den
König wohl die Gunst des Volks, das Märchen von der schwäbischen Frei-
heit war noch nicht ganz vergessen. Als er einmal durch Heidelberg kam,
schaarten sich die Studenten zusammen, um „dem Vertheidiger der natio-
nalen Freiheit“ ein Hoch zu bringen. Im December eröffnete er seinen
Landtag mit einer freiheitsstolzen Rede, obwohl die Kammer der Standes-
herren wieder einmal nicht erschienen und das Schauspiel dieses un-
*) Geh. Rath Vellnagel an Wangenheim, 28. Dec. 1823; Wangenheim's Ant-
wort, 3. Jan.;z Küster's Bericht, 7. Jebr. 1824.
**) Tatistscheff an Nesselrode, Juli; Antwort Nesselrode's, 2. Aug. 1823.