Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die Selbstherrschaft des Kurfürsten. 529 
loren hatte, den Ruf, der ihr bis zum Ende der kurfürstlichen Zeiten ver— 
blieben ist: daß sie bedeutende junge Kräfte zu gewinnen aber niemals sie 
zu halten verstehe. Noch ärger lag der bürgerliche Wohlstand darnieder. 
Kein anderer deutscher Gau zeigte noch so deutlich die Spuren des dreißig— 
jährigen Krieges, keiner war so weit zurückgekommen von der Behäbigkeit 
des sechzehnten Jahrhunderts. Wer jetzt in Fritzlar den herrlichen Re— 
naissancebau des Nymphäus betrachtete, der wollte kaum glauben, daß 
die Bürger dieses verödeten Ackerstädtchens sich jemals ein solches Hochzeits— 
haus hatten bauen können. In jedem Bauernhause arbeiteten die Weiber 
am Rocken und Webstuhl um dem Bauern seinen Hausbedarf und viel— 
leicht etwas Leinwand für den Markt zu verschaffen; aber ein irgend 
rühriger Gewerbfleiß hatte sich in dem Lande der großen Töpfe und des 
saueren Weines, wie es die Rheinfranken nannten, noch nirgends ent— 
wickelt, mit der einzigen Ausnahme Hanaus. Die schwachen Regungen 
wirthschaftlicher Unternehmungslust wurden darniedergehalten durch ein 
veraltetes Zollsystem, durch Binnenmauthen mitten im Kurfürstenthum 
und durch unzählige lächerliche Quälereien: wie viele Jahre vergingen, 
bis man das enge Stadtthor in Gelnhausen, das die große Leipzig-Frank— 
furter Handelsstraße versperrte und alljährlich hunderte von Fuhrwerken 
zum Umladen zwang, endlich abtrug. Vierzig Procent des Bodens waren 
Waldland. Der Landmann lebte in der höchsten Einfachheit. An der 
Schwalm, wo die größten Bauernhöfe des Landes lagen, war der Kaffee 
noch ganz unbekannt und der Covent, ein altberüchtigtes Dünnbier, der 
einzige Labetrank. 
Ueberall Verfall und Armuth; auch die Aasvögel des deutschen Bauern- 
elends, die Wucherjuden, hatten sich längst in Schaaren eingenistet. Auf 
dem erinnerungsreichen Marburger Schlosse, der Geburtsstätte Philipp’'s 
des Großmüthigen, saßen die Eisengefangenen; die schöne Elisabethkirche 
drunten, das älteste Werk deutscher Gothik, lag verschmutzt und halb ver- 
fallen, und von der staufischen Kaiserpfalz auf der Kinziginsel bei Geln- 
hausen wurden um diese Zeit die besterhaltenen Theile auf den Abbruch 
verkauft. Selbst für Cassel geschah gar nichts, obgleich sich doch sonst die 
Residenz selbst in den schlecht regierten deutschen Kleinstaaten der landes- 
fürstlichen Gnade zu erfreuen pflegte. In seinen jungen Jahren hatte 
der Kurfürst noch einige Badeorte mit Anlagen geschmückt und den Park 
der Wilhelmshöhe durch die lächerliche Geschmacklosigkeit seiner Löwenburg 
verschönert; jetzt meinte er genug zu thun, wenn er das Standbild Napo- 
leon's vom Königsplatze entfernte und dafür den menschenverkaufenden 
alten pater patriae wieder auf dem Friedrichsplatze aufstellen ließ. In 
den fünfzig Jahren bis zum Einzug der Preußen blieb Cassel fast völlig 
unverändert, die Kunstsammlungen geschlossen, Alles so todt und öde, daß 
die Göttinger Studenten, wenn sie herüber kamen, am hellen Mittag das 
sechsfache Echo auf dem runden Königsplatze wecken konnten. Nur zu 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. Ul. 34
	        
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