Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Chamisso. 691 
wenn er jetzt, der Heimath froh, in seinem bescheidenen Hause am ein— 
samen äußersten Ende der Großen Friedrichsstraße oder draußen unter 
den alten Bäumen des Botanischen Gartens saß und in den Wolken 
der nie verlöschenden Tabakspfeife die Gestalten seiner Dichtung ihn um— 
schwebten. Ohne jede Absicht trug er eine Erinnerung aus seinen Wan— 
derfahrten, ein häusliches Erlebniß, ein bedeutsames Wort, eine Zeitungs- 
anekdote lange im Herzen umher, und was ihn selber „im Leibe von der 
Seite der linken Pfote bewegte“ — so sagt er selbst mit unverkennbar 
französischer Redewendung —, das drängte sich ihm endlich auf die Lippen. 
Aber so naiv er im Empfangen war, so bewußt und künstlerisch verfuhr 
er beim Gestalten. Seiner französischen Abstammung verdankte er den 
Sinn für packende Wirkung, seine neckische Laune und die glückliche Be- 
stimmtheit seiner immer knappen, wohlabgerundeten Schilderungen, die zu 
Rückert's breiter Wortfülle in scharfem Gegensatze standen. In seiner 
Empfindung war er ganz deutsch, so mild und liebevoll, daß er sogar 
den Bauern, die über das frevelhaft zerstörte Schloß seiner Väter ihren 
Pflug führten, seinen Segen zurufen konnte. 
Und wunderbar, dieser Fremdling, der im Gespräche den Franzosen 
nie verleugnete, beherrschte in seinen Gedichten das Deutsche als ein 
Meister und verdankte einen guten Theil seiner Erfolge der geheimniß- 
vollen Macht seiner gedrungenen Sprache. Auch der kräftige Erdgeruch 
landschaftlicher Eigenart, der allen unseren bedeutenden Schriftstellern 
anhaftet, war seinen Gedichten nicht fremd. Wie er in seiner Jugend 
sich den Nordstern zum Sinnbild gewählt hatte, so ward er im Alter 
ein Liebling der Norddeutschen, weil er die wortkarge Weise ihrer starken 
Empfindung zu treffen wußte; sogar ein Zug des guten alten Berliner- 
thumes, das selber so reich mit französischer Bildung versetzt war, ließ 
sich in seinen Gedichten erkennen. Von der Romantik ausgegangen suchte 
er sich seine Stoffe an allen Enden der Welt und besang bald in schlichten, 
tief empfundenen Liedern das Allereinfachste, der Frauen Liebe und Leben, 
bald in kunstvollen Terzinen die Blutrache der Rothhäute und die Meeres- 
einsamkeit der Südseeinseln. Seine schönsten Gedichte gehörten dem moder- 
nen Leben an, das immer gebieterischer sein Recht von der Kunst ver- 
langte, und wenn das Gewoge der Parteiung die Grundlagen der Ge- 
sittung bedrohte, dann schrak Chamisso's friedfertige Natur auch vor einem 
scharfen Kampfgedichte nicht zurück. Als die Jesuiten in Paris wieder 
ihr Haupt erhoben, sang er, seinen Beranger noch übertreffend, das Nacht- 
wächterlied „und der König absolut, wenn er unsern Willen thut!“ Auch 
das Elend der Massen hörte er schon an das Thor der alten Gesellschaft 
klopfen und schilderte die Noth der kleinen Leute in dem furchtbar bitteren 
Gedichte vom Hunde des Bettlers, wie späterhin milder in den Liedern 
von der alten Waschfrau. 
Allle diese Dichter lebten mit sich selbst im Reinen, glücklich in dem 
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