Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Schleiermacher's Glaubenslehre. 701 
Religion die Einsamkeit hasse. Jetzt war längst erfüllt, was damals 
Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion gesungen hatte: 
Doch wo Viele sind beisammen, 
Zeigen sich der Andacht Flammen. 
Wie der Blitz wo Wolk' an Wolke 
Zündet Andacht sich im Volke. 
In ungewohnter Kraft regte sich wieder das kirchliche Leben, und mit 
ihm eine Fülle des Hasses. Die unversöhnlichen Gegensätze, welche 
Deutschland barg, traten häßlich zu Tage, als Voß starb (1826) und über 
dem Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. 
Paulus, Tiedemann, Schlosser verherrlichten den streitbaren Rationalisten, 
als ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Lessing gebührte. Görres 
aber machte sich den Hochmuth der Rationalisten zu nutze und schilderte 
in einer gewandten Streitschrift den Verstorbenen als den geistigen König 
von Niederdeutschland: in ihm, wie einst in der Reformation, hätte sich 
der hausbackene Bauernverstand der sassischen Niederungen verkörpert. 
Dieser nordischen Welt des platten Verstandes stehe aber ein anderes, 
schöneres Deutschland gegenüber: der reiche Süden mit seiner Phantasie, 
seiner Kunst, seiner katholischen Kirche! — Wo war die Brücke, welche 
über diese ungeheure Kluft hinüberführte? 
  
Unterdessen begannen die radicalen Ideen, welche seit den Revolu- 
tionen Südeuropas den Welttheil wieder erfüllten, auch in die deutsche 
Literatur einzudringen. Die prahlerische Selbstgefälligkeit des Teutonen= 
thums konnte nach so vielen getäuschten Hoffnungen nicht mehr dauern, 
ein Umschwung war nothwendig, und in der Geschichte unseres schwer 
lebenden Volkes pflegen solche Rückschläge meist heftig, gewaltsam, mit 
elementarischer Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politischer 
Unreife und verschrobener Zustände, daß die Umstimmung diesmal so 
ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radicalismus, der jetzt, ohne die 
Spitzen unserer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittel- 
klassen überhandnahm, war undeutsch vom Wirbel bis zur Sohle; er ver- 
höhnte schlechthin Alles was den Helden von Leipzig und Belle-Alliance 
heilig gewesen, unsere Dichtung und Wissenschaft, unseren christlichen 
Glauben, selbst die Thaten des Befreiungskrieges, und suchte seine Ideale 
in demselben Lande, das jene Aelteren mit glühendem Hasse verfolgt 
hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine 
nothwendige Folge der vielen zwischen ihnen noch schwebenden ungelösten 
Machtfragen, daß sie niemals in ein ruhiges Verhältniß gegenseitiger 
Achtung gelangten; das Urtheil der Deutschen über die Franzosen schwankte 
unsicher zwischen Haß und Ueberschätzung. In Frankreich wuchs ein junges 
Geschlecht heran, die blutigen Gräuel der Revolution waren vergessen, alle
	        
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