Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Börne. 707 
tischen Probleme nur ein kahles Entweder — oder aufzufinden vermochte. 
„Ist der Staat Zweck oder der Mensch in ihm?“ — dies schien ihm die 
große Frage der Zukunft; den Unsinn dieser Fragstellung, den schon Kant 
erwiesen hatte, vermochte er nicht zu durchschauen. So erging er sich 
denn, ohne je ein bestimmtes, greifbares Ziel zu weisen, in hohlen Lob- 
preisungen der Anarchie, der Mutter aller Freiheit, und in ebenso ge- 
haltlosen Zornreden wider das unabänderliche deutsche Elend: „wir sind 
eisernes Vieh, das die Vergangenheit der Gegenwart zugezählt, und das 
die Gegenwart, wie sie es erhalten, der Zukunft überliefern muß.“ 
Der einzige klare politische Zweck, den er im Auge behielt, war die 
Emancipation seiner Stammverwandten. Er selber war zum Christen- 
thum übergetreten, nicht aus religiöser Ueberzeugung, auch nicht um ganz 
ein Deutscher zu werden, sondern lediglich um des leichteren Fortkommens 
willen. Doch er kannte die Scham nicht und hielt es nicht für unan- 
ständig, als Renegat noch den Anwalt seiner verlassenen Glaubensgenossen 
zu spielen. Trotz seines Uebertritts bewahrte er sich den Rassendünkel 
des auserwählten Volks und verhehlte kaum, daß er die Juden für das 
Salz der deutschen Erde ansah — was ihn freilich nicht hinderte, gelegent- 
lich mit roher Selbstverhöhnung über Juden und Deutsche zugleich herzu- 
fallen und die deutschen Juden als Hasen mit acht Füßen zu verspotten. 
„Ich weiß", schrieb er einmal, „das unverdiente Glück zu schätzen, zugleich 
ein Deutscher und ein Jude geboren zu sein, nach allen Tugenden der 
Deutschen streben zu können und doch keinen ihrer Fehler zu theilen!“ 
Gleichwohl wollte er nicht dulden, daß die Christen auch nur den Namen 
„Juden“ in den Mund nahmen, und schrie über empörende Unduldsam- 
keit, wenn die Zeitungen der Wahrheit gemäß einfach berichteten, daß 
der jüdische Kaufmann Levi Bankrott gemacht habe. Unter den Be- 
schwerden, die er unermüdlich vorbrachte, waren manche wohl begründet, 
aber auch viele nur durch die Empfindlichkeit krankhafter Selbstüber- 
hebung eingegeben. Als die Stadt Frankfurt am hundertsten Jahrestage 
einer großen Feuersbrunst eine Erinnerungsfeier veranstalten wollte, ver- 
fügte der Rath: „Zu dem Ende wird Sonntags den 27. in allen christ- 
lichen Kirchen feierlicher Gottesdienst gehalten werden, sowie in der jüdischen 
Synagoge Gebete verordnet sind.“ Die Bekanntmachung war nach Form 
und Inhalt ganz harmlos, doch da sie für die Juden etwas andere 
Worte gebrauchte als für die Christen, so schleuderte Börne einen grim- 
migen Artikel dawider und rief verzweifelnd: „O armes Vaterland, in 
dem solche Dinge geschehen!“ Trotz solcher Uebertreibungen machten die 
beharrlich wiederholten Klagen doch Eindruck; die radicale Jugend be- 
gann die vor Kurzem noch so grimmig gehaßten Juden als edle Freiheits- 
kämpfer zu schätzen. 
Im Jahre 1822 reiste Börne nach Paris, und schon in Straßburg 
rief er glückselig: „ich fühle mich frei!“" Wie weit ab lag schon die Zeit 
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