Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

720 III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit. 
wissenschaftlicher Schärfe den Begriff der historischen Entwicklung, des Fort— 
schreitens von niederen Gesittungsformen zu höheren, welche die niederen 
in sich enthalten, und er zeigte zugleich wie dieser neue Gedanke zu hand— 
haben sei, indem er mit wenigen Meisterstrichen den inneren Zusammen— 
hang der Epochen unbewußten Schaffens und bewußter Reflexion darstellte. 
Darum wirkten seine Ideen mittelbar oder unmittelbar auch auf 
solche Historiker, welche die Geschichtsconstructionen des Philosophen ver— 
abscheuten. Was unvergänglich war in Hegel's Geschichtsphilosophie, lebte 
in Ranke's Werken fort, auch Droysen und viele andere der jüngeren 
Historiker erweiterten ihren Gesichtskreis in Hegel's Schule. Die viel— 
jährige Herrschaft der Hegelianer auf den Lehranstalten Preußens und 
Württembergs beförderte die Vielseitigkeit der Bildung und die Zucht des 
Denkens; selbst wer den Formeln des Systems sich nicht beugte, lernte 
doch verstehen, daß formloses Wissen gar kein Wissen ist. 
Aber ebenso deutlich zeigten sich auch die gefährlichen Folgen der 
neuen Lehre in dem maßlosen sophistischen Dünkel, den sie ihren Jüngern 
einflößte. Der rechtgläubige Hegelianer vermochte Alles was je geschehen, 
gedacht oder gethan war, als aufgehobenes Moment, als überwundenen 
Standpunkt in irgend einem Paragraphen seines allumfassenden Systems 
nachzuweisen. Ihm blieb eigentlich nur noch die eine Frage unlösbar, welche 
ein vorwitziger Schüler in der That aufwarf: was denn der Weltgeist jetzt 
noch beginnen solle, nachdem er in der absoluten Philosophie seine Voll- 
endung gefunden habe? In solcher Ueberhebung wurden die Philosophen 
bestärkt durch ihre allen Nichteingeweihten unverständliche Schulsprache. 
Der Meister selbst bewährte, wenn er sich in den Anmerkungen und Ex- 
cursen frei gehen ließ, immer die natürliche Sprachgewalt des Genius; 
manches schöne alterthümliche Wort hat er dem modernen Sprachschatze 
wiedergegeben, so das bezeichnende „von Haus aus“. In den Paragraphen 
hingegen befliß er sich barbarischer Kunstausdrücke, welche das Klare 
verdunkelten, das Einfache verwirrten, und die Jünger säumten nicht, die 
Unart des Lehrers noch zu überbieten. Da die Grundlagen des Systems 
in der Luft standen, so gelangten seine Bekenner mit Hilfe der Alles 
beweisenden dialektischen Methode zu Folgerungen, die nach allen Rich- 
tungen der Windrose auseinandergingen; und diese Philosophie, die sich 
mit ihrer Objectivität brüstete, entfesselte schließlich einen Schwall wirr 
durcheinander wogender subjectiver Meinungen. 
Der Satz „das Vernünftige ist wirklich“ enthielt eine tiefe Wahrheit, 
aber nicht die ganze Wahrheit. Er sagte nicht, daß in dieser wirklichen 
und vernünftigen Welt auch das Unvernünftige und das nur scheinbar 
Wirkliche besteht; er sagte noch weniger, daß der schaffende Geist berufen 
ist, in dem Werdenden das Vollendete zu ahnen, in den Keimen neuen 
Lebens schon die Wirklichkeit der Zukunft voraus zu erkennen. Nackt hin- 
gestellt konnte er also leicht im Sinne einer gedankenlosen Nuheseligkeit
	        
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